autismuseum : le labo : Valerie Bruck, George Frankl, Anni Weiss, Viktorine Zak : Erwin Lazar und sein Wirken [1932]

auteurValerie Bruck, George Frankl, Anni Weiss, Viktorine Zak
titre originalErwin Lazar und sein Wirken
date de publication1932
référenceZeitschrift für Kinderforschung, 1932, 40, 2, pp. 211-218
texteintégral
sourceBibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF Berlin
La numérotation à gauche du texte est celle des paragraphes de l’édition originale, les numéros de pages originaux sont insérés entre crochets dans le texte.

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[211] Am 4. April 1932 starb Professor Dr. Erwin Lazar im Alter von 55 Jahren nach langem Leiden. Ein ungeheurer Kreis von Menschen, seine Fachkollegen aus ganz Europa, Ärzte, Richter, Erzieher, Lehrer, Fürsorgebeamte und Fürsorgerinnen, Eltern und Kinder kannten ihn, weniger aus seinen, an seinem Lebenswerke gemessen, nicht sehr zahlreichen Schriften, als vielmehr durch persönliche Bekanntschaft. Sie kamen zu ihm, mit ihm zu disputieren, Kritik der eigenen Arbeit zu verlangen, Belehrung, Rat oder Hilfe zu suchen. Jeder von ihnen lernte — abgesehen von seinen ausserordentlichen menschlichen Eigenschaften — immer nur eine Seite dieses so vielseitigen und vollendeten Menschen kennen, gerade die, die eben gebraucht wurde. Aber nur die wenigen, die als seine Schüler und Mitarbeiter den geliebten Lehrer durch Jahre bei seiner Arbeit begleiten durften, wissen Bescheid um die ungeheure Ausdehnung und Vielsgeitigkeit seines Arbeitsfeldes, das sämtliche Zweige der Heilerziehung einer modernen Grossstadt und eines Landes umfasste. Wahrscheinlich können auch nur sie eine Ahnung von seinem gewaltigen Wissen haben, das, aus Studium, Erfahrung und Intuition organisch gewachsen und dauernd weiterwachsend, ihn wohl nie zur Ruhe eines Abschlusses kommen liess und dauernd zwang, auf dem, was geschaffen war, weiter zu bauen, das ihm dafür auch jenes Glück spendete, das der Forscher aus der eigenen schöpferischen Erkenntnis gewinnt.

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Es scheint nicht überflüssig, einen Werdegang zu schildern, der in seinen Etappen parallel läuft mit dem Entstehen und Aufblühen einer neuen Wissenschaft, deren Mitbegründer Lazar war und die nicht am wenigsten durch sein Verdienst das wurde, was sie heute ist. Überblickt man diesen Weg, den er gegangen ist, dann könnte man fast glauben, ein weiser Lehrer habe ihn geleitet, der ihm jeweils im richtigen Augenblicke riet, sich ein neues [212] Forschungsgebiet zu eröffnen, neue Fragestellungen anzugehen, damit schließlich die Teile ein festgefügtes Ganzes würden, ein einheitliches Forschungs- und Arbeitsgebiet, aus dem nichts entfernt werden dürfte, wollte man das Ganze nicht zerstören.

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Er begann als Biologe und Kinderarzt. Nach seiner Promotion (1901) arbeitete er durch mehrere Jahre an der Universitäts-Kinderklinik und verschiedenen Kinderspitälern Wiens, daneben wissenschaftlich an einem theoretischen (dem hygienischen) Institute. Sein Leben lang ist er ein ausgezeichneter Kinderarzt geblieben und hat immer wieder Gelegenheit gehabt, als solcher zu wirken. Vor allem aber ist für seine Betrachtungsweise der heilpädagogischen Probleme dieser Ausgangspunkt von der Biologie des gesunden und kranken Menschen immer ausschlaggebend gewesen. Als er sich dann (1907) mit Erziehungsfragen zu beschäftigen begann, fügte er in richtiger Konsgequenz diesen Vorstudien auch noch solche an der psychiatrischen Klinik hinzu. Damit war in gewisser Beziehung ein Programm gegeben: Biologie, Kinderheilkunde und Psychiatrie sind die Grundlagen seines wissenschaftlichen Denkens geworden.

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Als der Pestalozziverein in Wien, bei dem er seine heilpädagogische Arbeit begann, verwahrloste Kinder in ein besseres Milieu versetzte unter der Voraussetzung, dadurch ihre Dissozialität zum Schwinden zu bringen, benützte Lazar diese Gelegenheit als wissenschaftliches Experiment, um sich großzügig mit dem Problem der „exogenen und endogenen Wurzeln der Dissozialität“ auseinander zu setzen. Er stellte für sich endgültig fest, daß beides, ungünstige Anlage und ungünstiges Milieu, in verschiedenster Mischung mitwirkt, um eine Domestikationsschwierigkeit hervor-zurüfen. Aber diese seine erste wissenschaftliche Feststellung in der Heilpädagogik ist wie alle seine Erkenntnisse nicht Theorie geblieben, sondern war sein Leben lang eine der Grundlagen seiner diagnostischen Betrachtungen. Wenn die Anamnese noch so verlockend schwerste exogene Schäden, Verwahrlosung, Verwöhnung, Konflikte schilderte, er war doch nie imstande, alle diese Verhältnisse für sich allein zu betrachten, sondern immer nur in Beziehung zu gerade dem Menschen, dem dies widerfahren war. Er konnte niemals mehr davon absehen, daß dessen spezielle — eventuell psychopathische — Artung wenigstens zum Teil das Schicksal verursache, das bei oberflächlicher Betrachtung die Ursache der Dissozialität scheinen könnte. Gerade bei Mißhandlungsfällen, diesem krassesten exogenen Moment erwies sich diese Betrachtungsweise als besonders richtig, da sich bei einem großen Teil dieser mißhandelten Kinder bei der Untersuchung und Beobachtung heraus-stellte, [213] daß eine anlagemäßige oder durch Krankheit erworbene Abnormität vorliege, die sie zu besonders dissozialen und unangenehmen Mitmenschen macht. Aber auch umgekehrt konnte er bei noch so evident endogenen Störungen niemals von den gegegebenen Umweltverhältnissen absehen, zog sie immer wieder in Betracht, wenn es sich um Beurteilung des gegenwärtigen Zustandes und um die Frage der therapeutischen Möglichkeiten handelte.

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In der Folgezeit erweiterte er dann systematisch sein Arbeitsgebiet. Er übernahm für einige Zeit die Funktionen eines Schularztes an den Wiener Hilfsschulen, um sich mit den Problemen des kindlichen Schwachsinns beschäftigen zu können. Sehr bald erkannte er als wesentlich, daß die einfache Feststellung der Lernschwierigkeit oder des Schwachsinns, mit anderen Worten die bloße Messung des Intelligenzgrades für denjenigen, der als Fachmann, Lehrer und Erzieher beraten will, nicht genüge. Es ergab sich für ihn die Notwendigkeit, sich auch Kenntnis zu verschaffen über die Art der Intelligenzstörung, die Arbeitsweise, die psychische Aktivität und Konzentrationsfähigkeit und auch über die sonstigen psychischen und psychopathischen Eigenheiten, die zwar nicht direkt als intellektuelle Qualitäten zu rechnen sind, die Intelligenz-entwicklung aber entscheidend beeinflussen können. Zu diesem Zwecke schuf er sich eine eigene kombinierte Untersuchungs-methode. Es liegt ganz in der Linie Lazars, daß er dem Untersuchenden hier weitgehende Freiheit einräumte, freilich eine Freiheit, die nur dem Zwecke dienen durfte, sich der Individualität des Prüflings anzupassen und das Besondere, Charakteristische seiner Intelligenz und deren Entwicklungsaussichten zu erkennen.

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Ungefähr 1911 wurde er Psychiater beim Jugendgericht. Es ist hier nicht möglich, seine Aussichten über die Kriminalität der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Es sei aber gestattet, eine hervorstechende menschliche Seite seiner Persönlichkeit zu zeigen, die nirgends sich so frei entfalten konnte wie bei Gericht und in den Fürsorgeerziehungsanstalten, nämlich die des Menschen-freundes. Sentimentalität lag ihm nicht. Aber er war der Vor-kämpfer für die Abschaffung der Prügelstrafe in den österreichischen Anstalten. Er stellte sich seit jeher auf den Standpunkt, daß es sich bei Kindern und Jugendlichen nicht um Sühne oder Strafe, sondern nur um Hilfe und Besserung handeln könne. Er hatte in unerhörtem Maße die Fähigkeit, aus dem Aussehen des zu Untersuchenden, der Art seines Auftretens und Benehmens bei Gericht und aus den Angaben des Aktes über sein bisheriges Schicksal die Gesamtpersönlichkeit, ihre Neigungen und Bedürfnisse, ihre Fähigkeiten [214] und Gefahren, ja ihr zukünftiges Schicksal zu erkennen. Er brachte den verschiedenen Milieuwirkungen weitgehendes Verständnis entgegen, konnte sich in jede noch so verschrobene Persönlichkeit einfühlen. Dies benützte er, um in seinem Gutachten das vorzuschlagen, was den Jugendlichen am ehesten sozial und beruflich in die richtige Bahn lenken konnte.

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1918 wurde er beauftragt, bei der Reorganisation der österreichischen Erziehungsanstalten mitzuwirken. Die Frage der Gruppierung der Zöglinge innerhalb der einzelnen Anstalten wurde ihm Anlass, sich mit Typenforschung zu beschäftigen. Die Art, wie seine Typen entstanden, ist außerordentlich charakteristisch für seine Arbeits- und Denkungsweise. Er stellte sich die Aufgabe, möglichst solche Zöglinge miteinander zu vereinen, die sich gut vertragen könnten und sich durch die Verschiedenheit ihres Wesens nicht allzu sehr reizen würden. Eine Gruppierung nach psychiatrischen Diagnosen, mit der als der aussichtsreichsten begonnen wurde, mißlang vom pädagogischen Standpunkte vollständig. Dann ordnete er ganz intuitiv die Zöglinge so, wie sie nach Aussehen und Benehmen am besten zusammenzupassen schienen, ließ sich zum Teil sogar von dem ästhetischen Gesichtspunkte leiten, daß eine solche Gruppe gut Zusammengehöriger im Gesamteindruck angenehm wirken müsse. Tatsächlich zeigte sich, daß die Zöglinge der so entstandenen Gruppen auch im Wesen und in ihren Interessen gut zusammenpaßten und daß die Einzelnen innerhalb ihrer Gruppe deutlich leichter führbar waren. Lazar fand dann, daß diese Gruppen einer Einteilung zwar nicht nach dem realen Lebens-alter entsprächen, wohl aber nach dem Reifezustande der Einzelnen, wie er sich in Aussehen, Benehmen, auch in großen Zügen in der habituellen Reaktionsweise, dem Temperament usw. ausdrückt. So entstand jene in erster Linie für Anstaltsgruppierung bestimmte Typeneinteilung in infantile, puerile, juvenile usw. bei Knaben und Mädchen.

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Aber neben dieser offiziellen Lazarschen Typenlehre, die sich für diesen Zweck seither in Österreich bewährt hat, gibt es noch eine Unzahl anderer nicht offizieller Lazarscher Typen, die er sich schuf, wie sie ihm im Leben entgegentraten und wie er sie jeweils für den gegebenen Zweck der Menschenerkenntnis brauchte. War er berufsberaterisch tätig, dann stellte er sich auf die einzelnen Berufstypen ein und erkannte mit außerordentlicher Sicherheit den künftigen Schuster, Bäcker, Friseur, Schwerarbeiter und leistete mit dieser Fähigkeit speziell in den Erziehungsanstalten Außerordentliches. Aber auch unter den Psychopathen sah er immer wieder Typen, die charakteristischen Gestalten des täglichen [215] Lebens, nur oft von der Natur übertrieben und überscharf gezeichnet: da gab es das zum Betteln prädestinierte, Mitleid erregende Kind, den Girltypus und die Stallmagd, den Markthelfer, die Hausmeisterin, das Hausmütterchen und viele andere. Es gab Typen die einem anderen Milieu zu entstammen schienen als dem, in dem sie aufgewachsen waren, alte Bauern, Prinzessinnen, solche, die aus einer anderen Zeit kamen, gotische, Renaissancefiguren, aus einem anderen Lebensalter, einer fremden Rasse. Seine Ausdrücke für die betreffenden Fälle waren immer besonders prägnant, voll Humor,es lag keine Spur von Verachtung des Kindes darin. Wenn er es so mit einem Worte charakterisierte, war dies für die Zu- hörer die evidente Lösung, der Charakter des Kindes, seine Fähigkeiten, Talente, die künftigen Möglichkeiten auf das treffendste gezeichnet. Man verstand plötzlich die Fehler des Kindes, wie sie naturnotwendig aus der Art seiner Persönlichkeit entsprangen, verstand seine Konflikte, wußte, welche seiner Seiten man schonen müsse, was man ihm zumuten dürfe, wie man künftighin sein Schicksal beeinflussen könne.

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Mit dieser Fähigkeit, den Charakter des Menschen als Ganzes zu erfassen, konnte er auf eine Analygse der Gesamtpersönlichkeit mit ihren unzähligen und unentwirrbaren Eigenschaften verzichten und sich auf die Untersuchung jener Momente beschränken, die für die Störung, für das, was die Erziehungsschwierigkeiten macht, wesentlich sind. Aber auch in diesen Untersuchungen war er von Fall zu Fall sehr frei in der Methode. Es war ihm klar, daß es eine ganze Reihe wissenschaftlicher Einstellungen gibt, die alle geeignet sind, eine wissenschaftlich richtige Auflösung des Falles zu ermöglichen. Man kann sein Hauptaugenmerk auf physische Störungen legen, auf solche neurologischer, neuropathischer, endokriner Natur, man kann nach psychiatrischen Gesichtspunkten vorgehen, kann eine rein psychologische oder tiefenpsychologische Auflösung versuchen. Alle diese Methoden wurden von Lazar, soweit sie seinem Zwecke dienlich sein konnten, kritisch untersucht und die Eitelkeit, Fremdes, weil es fremd war, abzulehnen, lag ihm ferne. Seine Untersuchungen waren sehr komplex angelegt: genaue Anamnese, genaue körperliche Untersuchung, Intelligenz-prüfung, vor allem kurz- oder langfristige Beobachtung zum Zwecke vollkommenster Einfühlung waren im Programme vorgesehen. Aber wie ein Komponist in seiner Partitur jeweils ein Instrument hervortreten, die anderen nur begleiten oder schweigen läßt, so verstand er es, immer jenen wesentlichen Gedankengang in den Vordergrund zu schieben, der gerade im vorliegenden Falle zum Ziele führt. Das konnte das eine Mal eine medizinische oder [216] psychiatrische Diagnose sein oder eine der oben erwähnten Typen-bezeichnungen oder er verlegte den Schwerpunkt auf psychologische Gedankengänge oder fand in einer Störung der Motorik das Zentrum, von dem aus die Klärung möglich war usw. Es gab für ihn kein Schema, immer wieder sah er neue diagnostische, neue therapeutische Wege, jeder Fall war ein neuer noch nicht da-gewesener, bei dem er schöpferische Gedankenarbeit leistete.

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Im Zentrum seiner Tätigkeit stand als durchaus originelle Schöpfung die heilpädagogische Station der Kinderklinik. Hier lag die eigentliche Kraftquelle Lazars und seiner Mitarbeiterschaft, hier konnte frei von jeder aus äußeren Gründen erzwungenen Eile, frei von Routine und vorgefaßter Meinung gearbeitet werden. Oberstes Prinzip war natürlicher, selbstverständlicher Umgang mit den Kindern, unaufdringliche Beobachtung und Einfühlung. Auf-nahmebereitschaft für jede Eigenheit im Verhalten des Kindes, seiner Stimmung, seiner Vorlieben und Empfindlichkeiten, seiner Reaktionen auf Anregungen und Anforderungen, die Art seiner sozialen Anpassung, seiner Kontaktfähigkeit und seines Kontaktbedürfnisses. In regelmäßigen Aussprachen wurde — zunächst in rein deskriptiver Form — genau über die einzelnen Kinder berichtet, dabei die individuellen Eindrücke der einzelnen Mitarbeiter kritisch gewürdigt. Hier konnte Lazar oft durch eine kleine Bemerkung — etwa nachdem er beim Turnunterricht oder Ballspiel zugeschaut oder ein kurzes, äußerlich belangloses Gespräch mit einem Kinde geführt hatte — mit Sicherheit die Richtung weisen zur Klärung des Falles. Er gab der Beobachtung und Bemühung um ein Kind neue Anregungen, bis sich endlich — wie ein Geschenk — das Verständnis für die Persönlichkeit mit ihren Eigenheiten und Schwierigkeiten ergab. Damit war auch schon Klarheit darüber gegeben, wie das Kind weiter zu behandeln sei, ja die heilpädagogische Behandlung war damit bereits in vollem Gang und es galt nur mehr heraus-zufinden wo und mit welchen Mitteln die eingeschlagene Richtung nach Entlassung des Kindes am besten fortgesetzt werden könnte.

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Wurde in der beschriebenen Weise die Aufgabe der Beobachtungsstation erfüllt, so war damit auch die Unterlage zur wissenschaftlichen Verarbeitung und zur Weiterentwicklung der Heilpädagogik gegeben. Lazar wurde nie müde, gut erkannte und gründlich beschriebene Einzelfälle zu vergleichen, sowohl in ihren konstitutionellen Eigenheiten, Charakterzügen und Reaktionsweisen als auch in ihren Lebensläufen. Es ergaben sich zahlreiche charakteristische Symptomenkomplexe und psycho-physische Zusammenhänge, immer wieder vorkommende eigenartige Entwicklungsabläufe verschiedenster Art. Lazars große intuitive [217] Menschenkenntnis und sein kritisches Denken bewahrte ihn davor, sich an Unwesentliches zu verlieren.

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Es ist bei einer solchen Einstellung verständlich, daß er auf die Herstellung eines starren Systems in seiner Wissenschaft als einer Unmöglichkeit verzichtete und daß er auch jedes solche einseitige System, wenn es Anspruch auf Alleinherrschaft machte, verurteilte. Wie er über die Heilpädagogik als Wissenschaft dachte, darüber können vielleicht am besten die folgenden Zeilen Aufschluß geben, die er wenige Tage vor seinem Tode, wahrscheinlich als Einleitung zu einer größeren Arbeit schrieb:

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„Die Beschäftigung mit schwererziehbaren Kindern hat uns im Verlaufe der Jahre zu der Erkenntnis geführt, daß wir auf diesem Gebiete andere Methoden zu wählen haben als sie uns sonst in der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung stehen. Es handelt sich in Wirklichkeit nie darum, Krankheitssymptome festzustellen, aus Symptomen und Syndromen Krankheitsbilder zu entwerfen, auch nicht den näheren und den entfernteren Ursachen einer Abnormität, einer Auffälligkeit, eines einschlägigen Krankheitsbildes nachzugehen, sondern ein möglichst vollständiges Bild einer Gesamt-persönlichkeit zu gewinnen. Während wir in der Medizin wissen wollen, an welcher bestimmten Erkrankung der gegsamte Organismus leidet, den wir wohl als variabel, aber im allgemeinen in den Grundzügen als einheitlich voraussetzen, bezw. welches von den gleichfalls einheitlich konstituierten Organen sich in einem Zustande der Funktionsstörung befindet, verlangen wir überall, wo es sich um Erziehungsschwierigkeiten handelt, die Darstellung der Persönlichkeit, die als solche eine einmalige, nicht früher noch später zu findende Erscheinung ist. Die Beziehung, die naturnotwendig zwischen körperlich erkranktem Organ und der Gesamtheit der körperlichen Persönlichkeit besteht, pflegen wir zu vernachlässigen, müssen es tun, zum mindesten solange wir diagnostisch arbeiten. Bei der Einteilung der Krankheiten, in der gesamten Pathologie konnten sich rein individualisierende Grundsätze nie geltend machen. Selbst in der uns Heilpädagogen zunächst verwandten Psychiatrie spielt dieses individualisierende Moment eine untergeordnete Rolle. Die Krankheitssymptome der Schizophrenie, des zyklischen Irreseins stimmen für alle Individuen, die davon betroffen werden, überein. Solange man nur eine Diagnose braucht, kann man auf die sonstige Person des Geisteskranken verzichten. Erst wenn wir auch in diesen Fällen das Gefüge der Gesamtpersönlichkeit entziffern wollen, entdecken wir die Verschiedenheiten der einzelnen Kranken, die sich dann plötzlich als Individualitäten zeigen, die nur durch die Gleichartigkeit einer einzelnen, besonderen psychischen Erscheinung zusammengehalten werden.“

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„Der Wert, diagnostisch faßbare Symptomenkomplexe zusammenzufassen und sie unter eine bestimmte allgemein erkennbare Marke zu bringen, ist in der Wissenschaft bereits einigermaßen beschränkt worden. Von dem Augenblicke, da die grob klinische Diagnose gestellt ist und man als behandelnder Arzt der Eigenheit der individuellen Persönlichkeit gegenüber steht, beginnen Momente bedeutsam zu werden, die mehr die charakterologischen Besonderheiten, die soziale Einstellung des Kranken betreffen. Alles was hier an Anlage, an Erlebnissen, also endogen oder exogen zur Konstituierung der Persönlichkeit geführt hat, wird wichtig, ja es gewinnt [218] oft genug den Anschein, als ob in den kleinsten Begebenheiten, die sowohl eine Änderung des inneren Gefüges als auch der äußeren Lebensstellung herbeigeführt haben, die Wurzel der psychiscen [sic!] Erkrankung stecken müsse. Je mehr Krankheitsbilder man analysiert, um so mehr sieht man das Auftreten früher nicht beachteter Umstände, denen man je nach der Fixation der persönlichen Einstellung die Schuld an dem psychischen Zusammenbruch beilegen möchte. Bei entsprechender Kritik kommt man allerdings wieder zu der Frage, warum denn etwas, das wiederholt auftreten muß, doch nur in den zur Analyse gekommenen Fällen die verderblichen Folgen gehabt hat, während die übergroße Zahl der übrigen Menschheit dieses Übel ohne schwerere Schädigung überstanden hat. Wir kommen damit zu der Vorstellung, daß das schädigende Moment eine besonders starke Wirkung gehabt haben muß, die sowohl in einer wesentlichen Kraft des schädigenden Faktors als auch in einer erhöhten individuellen Empfindlichkeit ihre Ursache haben kann.“

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„Je mehr wir uns von der Pathologie der Geisteskrankheit entfernen, je weniger das Allgemeinsymptom des gemeiniglich Krankhaften unsere Aufmerksamkeit fesselt, um so häufiger treten uns die Umstände entgegen, die irgendwie formend die Oberfläche der Persönlichkeit getroffen haben. Das Antlitz einer Gegend ist bekanntlich von einer Reihe von Umständen abhängig, die mit der Art der geologischen Zusammensetzung nichts zu tun haben. Nicht nur die meteorologischen Erscheinungen (Wind, Regen) sind wirksam, auch Flora und Fauna sind beteiligt und nicht zuletzt der kulturelle Einfluss des Menschen. Aber je nach der Beschaftenheit des Bodens können sich alle diese Einflüsse geltend machen und je nachdem tritt das eine oder andere bestimmend hervor. Diese Beschaffenheit des Bodens ist ihrerseits wieder abhängig von der Art, wie sich die geologische Schiebung vollzogen hat, was durch den Zufall des Geschehens an die Oberfläche gebracht wurde. Können wir hier nicht Ähnlichkeiten mit der Entwicklung des menschlichen Individuums finden, bei dem es schließlich auch dem Zufall überlassen bleibt, was mehr oberflächlich, was tiefer liegt, können wir nicht auch hier die geologischen Vorstellungen zu Hilfe nehmen, aus denen hervorgeht, wie die verschiedenartigen Leistungen ursprünglich gleichartiger Materien zum Schlusse doch dem Individuum die spezifische Note aufdrücken und wie weit diese selbst wieder noch weiter spezialisiert und noch individuell gestaltet wird durch das, was ihm während seiner Lebensbahn an großen und kleinen Katastrophen widerfahren ist und wie die Zufälligkeiten und Regelmäßigkeiten der äußeren Einflüsse sich ausgewirkt haben.“