auteur | George Frankl |
titre original | Triebhandlungen bei Dissozialität nach Encephalitis epidemica und anderen psychopathischen Störungen des Kindesalters |
date de publication | 1937 |
référence | Zeitschrift für Kinderforschung, 1937, 46, 5, pp. 401-448 |
texte | texte original, pas encore entier : work in progress. |
source | https://scripta.bbf.dipf.de/viewer/image/024493198_0058/405/LOG_0030/ |
1. Dissozialität nach Enzephalitis epidemica.
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In einer früheren Arbeit wurde das Krankheitssyndrom des Parkinsonismus nach Enzephalitis epidemica im Kindesalter besprochen und einer Analyse unterzogen. Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, daß echte Folgezustände nach Enzephalitis epidemica in den letzten Jahren so gut wie gar nicht mehr zu sehen sind; unter 900 Fällen, die in den Jahren 1931-1936 zu längerer Beobachtung an die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätsklinik aufgenommen wurden, gab es nur einen einzigen, in dem mit Sicherheit, einen zweiten, in dem mit einiger Wahrscheinlichkeit diese fatale Diagnose gestellt werden konnte, die doch zur Zeit der großen Grippeepidemie nach dem Kriege so häufig gewesen war. Dagegen konnte festgestellt werden, daß Störungen, die dem Parkinsonismus wesensgleich sind, im Kindesalter nicht nur als Folgezustand nach Enzephalitis epidemica, sondern auch sonst noch sowohl bei gewissen progredienten neurologischen Erkrankungen als auch bei nicht progredienten neuropatischen Zuständen vorkommen können. Der Symptomenkomplex « Parkinsonismus » war damit vom Krankheitsbegriff « Zustand nach Enzephalitis epidemica », mit dem er bisher unlösbar verschmolzen schien, losgelöst.
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Eine phänomenologische Analyse der kindlichen Parkinson-syndrome war nicht nur vom nosologischen Standpunkt aus wichtig, sondern erwies sich auch für die allgemeine Psychopathologie als sehr fruchtbar. Es war möglich, aus der Ausschaltung bestimmter Leistungen bei dieser Krankheit auf die Existenz bestimmter psychischer Funktionen beim Normalen (die « affektive Sprache », die « automatischen Handlungsabläufe und Bewegungsregulationen ») zu schließen und ihren Leistungsumfang und ihre Wichtigkeit abzuschätzen, ähnlich wie sonst in der Psychopathologie aus der Schädigung bestimmter Hirnpartien auf das Vorhandensein der dort lokalisierten Funktionen geschlossen werden kann (aus Schädigungen des Kleinhirns auf das Vorhandensein einer zentralen Gleichgewichtsregulation, aus der Hinterstrangdegeneration auf die Existenz und Bedeutung der Tiefensensibilität usw.).
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Von den Zuständen nach Enzephalitis epidemica wurde in jener Arbeit im wesentlichen nur der Parkinsonismus behandelt. Die zweite Hauptform, in der sich diese Krankheit in ihrem chronischen Stadium im Kindesalter äußert, wurde kaum gestreift. Es ist dies die Dissozialität nach Enzephalitis epidemica, jene merkwürdige und entsetzliche Persönlichkeitsveränderung, die Monate oder Jahre nach Ablauf des akuten Stadiums eintritt und sich beim Kinde in unbeeinflußbarer Schlimmheit und noch öfter in schwerster Kriminalität äußert. Auch dieses Syndrom ist in den letzten Jahren mit dem Verschwinden der Enzephalitis epidemica selbst verschwunden. An der Heilpädagogischen Abteilung kamen bis etwa 1927 sehr viele Fälle zur Beobachtung, dann wurden sie rasch seltener; die beiden letzten Fälle, bei denen diese Diagnose gestellt werden konnte, stammen aus den Jahren 1929 und 1931.
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Auch dieses Krankheitsbild hätte also jetzt, da es gar nicht mehr vorkommt, keine praktische Bedeutung mehr, wenn nicht auch in ihm ein bestimmtes psychopathologisches Phänomen — die Handlungsform « Triebhandlung » — in exemplarischer Reinheit zur Darstellung gelangte, so daß sie ihr besonders gut studiert werden konnte. Wieder läßt sich zeigen, daß diese Handlungsform durchaus nicht nur bei der Dissozialität nach Enzephalitis epidemica vorkommt; sie ist — mit allen ihren charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften — bei sehr verschiedenen anderen psychopathischen Zuständen nachweisbar und spielt dort als ein die Erziehungsschwierigkeiten mutbedingender Faktor oft eine sehr wesentliche Rolle. Es wird nachzuweisen sein, daß Triebhandlungen in gewissen Ausnahmssituationen auch beim Gesunden hervorbrechen können und dann durchaus gleichgestaltet sind wie bei der postenzephalitischen Dissozialität.
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Allerdings gibt es keine Krankheit, bei der sie in solcher Häufung, gewissermaßen in Reindarstellung vorkommen wie hier. Daher sind hier die Erscheinungsformen der Triebhandlung im Kindesalter, ihre charakteristischen Merkmale, die Besonderheiten, durch die sie sich von andern Handlungsformen des Menschen unterscheidet, ihre besondere Wirkung auf die Umwelt und speziell auf den Erzieher, schließlich und vor allem die Möglichkeiten pädagogischen Vorgehens ihr gegenüber am klarsten erkennbar. Die Erkenntnisse, die hier erworben wurden, lassen sich — mutatis mutandis — bei allen anderen psychopathischen Zuständen anwenden, bei denen Triebhandlungen eine wesentliche Rolle spielen. Dies ist die Ursache, daß diese glücklicherweise ausgestorbene Krankheit noch heute eine so ungeheure Bedeutung für die Psychopathologie des Kindesalters besitzt.
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Ein paar Worte noch über die angewandte Methode der Untersuchung und Beobachtung, da die berichteten Resultate nur zu verstehen sind, wenn man weiß, wie sie gewonnen wurden. Wie eine Erziehungsschwierigkeit wirklich beschaffen ist (und um Beurteilung von Erziehungsschwierigkeiten handelt es sich doch hier), das kann man nur wissen, wenn man sich die Möglichkeit Schaft, diese Erziehungsschwierigkeiten selbst in der natürlichen, lebendigen Situation mitzuerleben, und wenn man selbst im aktuellen Augenblick die pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen versucht, von denen man glaubt, daß sie zum Ziele führen. Dies ist hier geschehen: sämtliche Tatsachen, die mitgeteilt werden, sind sehr reale und gut fundierte Erfahrungen und Erkenntnisse der Erzieher und Ärzte der Heilpädagogischen Abteilung. Sie wurden im Zusammenleben mit den Kindern, beim Unterricht, Spiel, Turnen, bei den Mahlzeiten, unter anderem natürlich auch während Gesprächen oder bei Gelegenheit von Intelligenzprüfungen gemacht. Theoretische Deduktionen wurden in dieser Arbeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt und n verwendet, wo sie sich aus den gemachten Erfahrungen notwendigerweise ergaben. Sie sind es auch, auf die am allerwenigsten Wert gelegt wird; wir sind jederzeit bereit, sie leichten Herzens über Bord zu werfen, wenn sie durch neue Erfahrungen widerlegt werden sollten. Denn wir fürchten nichts mehr, als daß uns durch Kleben an einer vorgefaßten Meinung oder Theorie der freie Blick für Tatsachen getrübt werde.
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Ich kann an dieser Stelle nicht umhin, gegen gewisse Formen psychologischer, psychiatrischer und pädagogischer Betrachtungsweise ein wenig aggressiv zu werden: immer wieder drängen sich als Berater, mit Vorträgen und Schriften solche Personen vor, die zwar viele erziehungsschwierige Kinder in der Sprechstunde gesehen, examiniert, getestet, untersucht haben, die aber in ihrem ganzen Leben die betreffende Erziehungsschwierigkeit kaum je selbst mitgemacht und mit ihr fertig zu werden versucht haben. An Stelle realer Erfahrungen ist ein gewaltiges theoretisches oder Denkgebäude vorhanden, an das man nicht mehr mit der kühlen Kritik des Wissenschaftlers, sondern nur mit dem religiösen Fanatismus des Gläubigen herantreten darf. Auf Grund theoretischer Überlegungen, die längst den Boden praktischer Erfahrung verloren haben, auf Grund statistischer Daten, die niemals eine Verbindung mit dem Leben hatten, auf Grund der Binsenweisheit moderner oder alter pädagogischer Prinzipien und Regeln, die ja im allgemeinen richtig sind, aber gerade in den Ausnahmsfällen, die zum Erziehungsberater kommen, gewöhnlich schon längst vergeblich probiert wurden, unterfangen sie sich, sich zum Richter über Lehrer und Eltern aufzuspielen, die ihnen an praktischer Erfahrung und erzieherischen Instinkt oft haushoch überlegen sind. Merkwürdigerweise fühlen sehr viele Menschen den Drang in sich, über Erziehung und Erziehungsschwierigkeiten zu sprechen und zu schreiben, aber nur sehr wenige von diesen haben das Bedürfnis, das betreffende Problem selbst experimentell zu erproben. Vielleicht hat dies seine Ursache darin, daß Geduld, Zeit und Gelegenheit dazu gehören, jene Situation zu erleben, in der man nicht nur das Kind selbst, sondern auch seine Schlimmheit oder seine Angst oder seinen Zorn sehen und jene pädagogisch-therapeutischen Maßregeln erproben kann, die man für richtig hält. So zieht man es gewöhnlich vor, nach dem zu urteilen, was man über die betreffende Schwierigkeit in der Sprachstunde vom Erzieher oder vom Kinde selbst erfahren kann; solche Berichte lassen sich merkwürdig leicht mit jeder wie immer gearteten psychologischen Theorie in Einklang bringen. — Diese Vorgangsweise scheint mir nicht anders als wenn ein Arzt, ohne die Krankheit selbst zu sehen und ohne die Wrikung seiner Mittel je selbst kontrolliert zu haben, nur nach anamnestischen Berichten ordinieren wollte.
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Im folgenden werden zunächst als Beispiele zwei zuletzt beobachteten Fälle von Dissozialität nach Enzephalitis epidemica, so wie sie die Erzieher in mehrwöchentlichem Beisammensein erlebten, dargestellt. In der späteren Besprechung dieser Fälle werden wir uns, entsprechend dem Thema dieser Arbeit, auf die Schilderung der Triebhandlung beschränken und die übrigen neuro- und psychopathischen Erscheinungen, die regelmäßig oder häufig das Krankheitsbild der postenzephalitischen Dissozialität im Kindesalter mitbilden helfen, nur erwähnen.
Die charakteristischen Eigenschaften der einzelnen Triebhandlung
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Diese außerordentliche Häufung, eine ununterborchene Folge der verschiedensten Triebhandlungen ist also für die postenzephalitische Dissozialität gegenüber allen andern Formen psychopathischer Triebhaftigkeit charakteristisch. Dagegen zeigt es sich immer wieder, daß alle Triebhandlungen, gleichgültig ob sie nun bei einem Enzephalitiker oder irgendeinem ganz anders gearteten Psychopathen oder bei einem Gesunden in einer Ausnahmssituation (z. B. in hhster Gefahr) vorkommen, durch bestimmte Eigenschaften ausgezeichnet sind, durch die sie sich in charakteristischer Weise von allen anderen Handlungsformen des Menschen (z. B. vom bedingten Reflex, von den komplizierteren automatisierten Handlungsabläufen oder von den vom Intellekt kontrollierten Handlungen) unterscheiden. Allerdings ist man als Arzt kaum je, als Erzieher nur selten in der Lage, bei nicht enzephalitischen Kindern solche Triebhandlungen zu sehen, da sie sich gewöhnlich nicht vor den Augen des Erziehers oder Beobachters abspielen. Nur in der posteenzephalitischen Dissozialität konnte man den Charakter der Triebhandlung wie im Experiment studieren, da man sie im Beisammensein mit diesen Kindern immer wieder, oft in ununterbrochener Folge beobachten konnte. Ein solches längeres, über ein kurzes Examen in der Sprechstunde hinausgehendes Beisammensein war freilich auch hier notwendig. Denn diese Phänomene, die jetzt beschrieben werden sollen, sind doch nur wärhend der verschiedenen natürlichen, sich von selbst ergebenden Situationen des Alltags zu beobachten.
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Am meisten fällt dem Erzieher an den Handlungen des enzephalitischen Kindes vielleicht auf, daß sie so merkwürdig geschwinde vor sich gehen und daß man daher gewöhnlich gar nicht dazu kommt, auf sie Einfluß zu nehmen. Auch wenn man die Diagnose schon kennt und daher auf alles gefaßt und dauernd am Sprung ist einzugreifen, gelingt es sehr oft nicht, zurecht zu kommen, um ein Tat zu verhndern. Plötzlich, in einem unvorhergesehenen Augenblicke, ist etwas geschehen und vorüber, bevor der Erwachsene auch nur erfaßt, daß etwas im Anzug ist. Mehrere Eigentümlichkeiten der Triebhandlungen sind dafür verantwortlich zu machen :
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Da ist zunächst ein Phänomen, das als unvermittelter Intentionswechsel beim Übergang in die Triebhandlung bezeichnet werden kann. Jeder Erzieher ist gewohnt, es einem Kinde Schon kurze Zeit vorher anzusehen, wenn es die Absicht hat, seine bisherige Ruhe oder Tätigkeit aufzugeben und etwas Neues zu beginnen. Er kann sehen, wie es in seinem Tun nachläßt oder es unterbricht, er sieht eine Zuwendung zum Gegenstand der Künftigen Aktion, sieht am Gesicht den Ausdruck des Überlegens oder des Lauerns oder des Erspähens einer Gelegenheit, sieht, wie sich der Körper motorisch vorbereitet und startbereit wird u. dgl. Wenn dieses Stadium der Vorbereitung auch oft nur Augenblicke dauert, so genügen diese gewöhnlich schon, um eine rechtzeitige Stellungnahme des Erziehers zu ermöglichen. Bei den Triebhandlungen, von denen hier die Rede ist, fehlt dieses die Aktion vordereitende Stadium vollständig; sie bricht unvermittelt hervor. Plötzlich, ohne Übergang, ist ein Handlungs-, aber auch ein Gefühls- oder Affekt-ablauf abgebrochen und eine neue Aktion in Gang oder gar vollendet. Der Erzieher kommt zu spät; sehr oft sieht er nur mehr das Resultat, weiß aber nicht, wie es zustande kam. Dieses Erlebnis, daß man zu spät kommt, auch wenn man noch so sehr auf der Hut und bereit zum Eingreifen ist, ist für den Erzieher sehr irritierend, wenn er es nicht kennt. Wenn er es einmal kennen gelernt hat, wird es ihm äußerst charakteristisch für die postenzephalitische Dissozailität, dann weiter für Triebhandlungen überhaupt.
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Die zweite Ursache dafür, daß es so schwer ist, postenzephalitische Dissoziale zu beherrschen, ist die außerordentliche körperliche Geschicklichkeit und Geschwindigkeit, eine « pathologish gute » Motorik, mit der sie ihre dissozialen Handlungen ausführen. Sie fehlt eigentlich nie. Doch wird später zu zeigen sein, daß diese merkwürdig gute Körperbeherrschung nicht etwas der Motorik des Enzephalitikers Eigentümliches ist. Es ist vielmehr eine Besonderheit jeder echten Triebhandlung, daß sie, wie immer die sonstigen motorischen Fähigkeiten des betreffenden Individuums sein mögen, so bemerkenswert geschickt und geschwinde ausgeführt wird.
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Manche motorischen Leistungen dieser Kinder sind tatsächlich so, wie ein normales Kind sie nie zustande brächte. Sehr häufig sind sie wunderbare, von keinerlei Angst oder Schwindel gehemmte Turner und Kletterer.
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In einem Kinderspital kletterte einmal ein solcher Knabe aus dem Fenster des ersten Stockwerkes heraus, kroch ein gutes Stück horizontal entlang eines ganz schmalen Gesimses, kletterte dann die Fassade dieses und des zweiten Stockwerkes in die Höhe bis auf das Dach und saß nun zum Entsetzen der Krankenschwestern und zum Ergötzen der sich ansammelnden Leute am Giebel des Daches, bis man mit Leitern kam, um ihn herunterzuholen. Da entwischte er wieder und kehrte den gleichen Weg, den er gekommen war, in sein Bett zurück.
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Solche waghasige Kletter- und Trnkünste sind eine sehr charakteristische Liebhaberei vieler dieser Kinder. Ineerhalb des Zimmers üben sie sich an allen Einrichtungsgegenständen, kommen auf alle Kästen, turnen und hängen im Gitterbett wie die Affen. Sie turnen auch sonst sehr gut, können oft mit Virtuosität Purzelbäume und Räder schlagen und andere akrobatische Leistungen vollbringen. Viel wesentlicher als ihere turnerische Tüchtigkeit ist es freilich, daß sie auch bei ihren vielen unerlaubten Impulshandlungen eine wieselartige Geschwindigkeit und Geschicklichkeit entwickeln. Auch dadurch wird es äußerst schwer, ihnen beizukommen, und es gelingen ihnen viele Delikte, die ein Gesunder nie auszuführen imstand wäre. Am häufigsten zeigt sich dieses Phänomen bei ihren häufigen Fluchthandlungen und Diebstählen. Dieser außerordentlichen Geschicklichkeit haben die Kinder es auch zu verdanken, daß~ihnen bei ihren oft gefährlichen Unternehmungen gewönlich nichts geschieht.
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Mit dieser eben besprochenen Eigenschaft der Triebhandlungen ist auch die folgende verwandt: Bei der Ausführung dieser doch immer vollkommen improvisierten Handlungen, bei denen klar bewußtes Denken und Willkür offensichtlich überhaupt keine Rolle spielen und bei denen gewöhnlich vorher gar keine Zeit gegeben ist, einen Plan zu machen, zeigt sich ein merkwürdiges Raffinement in der Auswahl der Mittel, eine besondere Fähigkeit, instinktiv den schersten und besten Weg einzuschlagen und jene Bewegungen richtig anzuwenden, die im Augenblick geboten sind. Es sieht dies wie eine besondere Schlauheit aus: wenn etwa das Kind im gegebenen Augenblick im einzig richtigen oder im besten Versteck, das weit und breit zu finden ist, verschwindet, oder den einzig möglichen Weg zur Flucht findet oder den besten Moment für einen Diebstahl ausnützt. Es können auf diese Weise Hindernisse überwunden werden, die der denkende oder überlegende, mit einem Gewissen, mit Zweifeln, Skrupeln und Ängsten belastete Mensch nie bewältigen könnte.
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Daß diese Handlungssicherheit, Geschicklichkeit und das Raffinement nicht etwas der betreffenden Persönlichkeit Eigentümliches, sondern ausschließlich an die Triebhandlung gebunden sind, kann man in jenen Momenten des Lebens dieser Kinder sehen, in denen si gerade nicht von einem Triebimpulse beherrscht sind. Wenn sie gezwungen sind, etwas zu tun, was nicht lustbetont ist, sind sie plötzlich merkwürdig ungeschickt und unaufmerksam. Man sieht z. B. sehr häufig, daß die gleichen, akrobatisch geschickten Kinder sich beim disziplinierten Turnen in der Gemeinschaft als besonders unbeholfen, hilflos und unbrauchbar erweisen. Ähnlich sind sie bei Spielen, die sie nicht mit ihren Triebimpulsen übereinstimmen. Sehr oft treten gerade in diesen Augenblicken die ersten Anzeichen des beginnenden Parkinsonismus zutage. Man kann hier die merkwürdigsten Gegensätze sehen, es zum Beispiel erleben, daß so ein Kind den größten Teil der Turnstunde während der Freiübungen nichts zustande bringt, sich grotesk ungeschickt bewegt, sich übermäßig anstrengt, unmöglich durch längere Zeit aufmerken und sich in die allgemeine Disziplin einfügen kann; wenn dann Schließlich in der letzten Viertelstunde irgendwelche angerenden akrobatischen Übungen versucht oder ein dem Kind angenehmes Turnspiel gespielt wird, ändert sich plötzlich das Bild; das bisher ganz verlorene und hilflose Kind wird erregt und angeregt, und gleichzeitig kommt es zu jenen beschriebenen ausgezeichneten motorischen Leistungen. Es liegt dann nahe, das vorherige Versagen für Böswilligkeit, etwaige parkinsonistische Zeichen für Simulation zu nehmen. Daß dies nicht der Fall ist, ist daraus zu erkennen, daß die Leistungen auch dann nicht besser werden, wenn das Kind offensichtlich besten Willens ist und sich sehr austrengt, um brav zu sein und dem Erzieher etwas zuliebe zu tun. Die Änderung der Motorik tritt erst ein, wenn die Handlung, die verlangt wird, selbst lustbetont ist und daher in triebhafter Weise ausgeführt wird.
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Noch ein Phänomen ist zu beschreiben, das allen diesen Triebhandlungen eigentümlich ist. Jedes vom Verstand regierte Handeln des Menschen stellt ein Kompromiß zwischen den egoistischen Wünschen des Handelnden und den notwendigen Rücksichtnahmen auf Gefahren, Verbote, Bedürfnisse der Mitmenschen, ethische Normen usa. dar. Es ist eine Besonderheit jeder « vernünftigen » Handlung, daß sie auch von solchen Vorstellung aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die auf das aktuelle Handlungsziel nicht unbedingt Bezug haben, beeinflußt wird. Jede Aktion gründet sich auf Erfahrungen, d. h. sie wird weitgehend durch in der Vergangenheit Erlebtes beeinflußt, sie kann ferner ihr Ziel im Interesse irgendwelcher gegenwärtiger, außerhalb des Handlungsfeldes gelegener Umstände modifizieren oder beiseite stellen, und schließlich ist sie auch auf die Folgen bedacht, die sie in näherer oder fernerer Zukunft haben könnte.
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Im Gegensatz dazu sind die Handlungen dieser enzephalitischen Kinder stets ausschließlich auf das eine Ziel der Befriedigung des augenblicklich herrschenden Triebes eingeengt. Sie werden ausgeführt, ohne Rücksicht auf böse Erfahrungen, die früher gemacht, oder auf gute Vorsätze, die früher gefaßt wurden, auch ohne Rücksicht auf unangenehme Folgen, die die Tat später haben könnte. Und auch die gegenwärtige Situation wird nicht berücksichtigt, etwa in dem Sinn, daß ihr zuliebe der Wunsch aufgegeben oder aufgeschoben oder nur teilweise befriedigt würde; sie wird nur, wie gezeigt wurde, aufs geschickteste im Dienste der Triebbefriedigung ausgenützt. Sowie ein Wunsch aufsteigt, ist alles andere vergessen und es wird ihm ganz nachgegeben. Dies ist die Ursache dafür, daß Handlungen enzephalitischer Kinder und weiterhin auch Triebhandlungen anderer Kinder so rücksichtslos, egoistisch, bösartig, brutal, gefährlich sind, also den Charakter des Dissozialen annehmen. Es ist für den in der Triebhandlung befindlichen Menschen eben gleichgültig, ob diese erlaubt oder verboten, störend, lästig, kränkend, schädlich oder verbrecherisch ist. Es ist so als ob in dem Augenblick, in dem ein Mensch unter der Wirkung eines siegreichen Triebimpulse steht, seine Vernunft ausgeschaltet oder als ob sein Denken mit Scheuklappen versehen wäre, als ob er nur das eine Ziel der Trieberfüllung sehen könne und sonst für alles, was rechts und links, davor oder dahinter liegt, blind sei. Diese beiden in enger Korrelation zueinander stehenden Phänomene der Kurzschlüssigkeit der Triebhandlung und der Bewußtseinseinengung in ihr sind noch viel deutlicher bei den Triebhandlungen nicht enzephalitischer Kinder zu beobachten. Es wird noch später eben von den « Kurzschlußhandlungen » zu sprechen sein, jenen echten Triebhandlungen in den Gefahr, der Erregung, der Angst oder dem Zorn, bei denen gerade diese eigentümliche Besinnungslosigkeit im Denken und Rücksichtslosigkeit im Handeln besonders deutlich hervortritt.
2. Triebhandlungen bei psychopathischen Zuständen, die nicht Folgezustände nach Enzephalitis epidemica sind.
Fall 3. Johann G., 4 Jahre alt.
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Der Bub stammt aus einem kleinen Orte in den Alpen und wurde vom Artz wegen seiner Anfälle in die Klinik gewiesen. Die Anamnese, die wir nur in kurzen Auszug bringen, stammt vom Vater des Knaben:
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Die Geburt war leicht und normal, die gesamte Frühentwicklung verspätet. Auch jetzt spricht er noch sehr schlecht. — Einige Kinderkrankheiten sind komplikationslos verlaufen.
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Seit dem 9. Lebensmonat leidet er an früher seltenen, jetzt häufigen Anfällen, die vom Vater sehr im Detail zum Teil als typische epileptische Anfälle, zum Teil als petit-mal-Anfälle beschreiben werden. In letzter Zeit treten solche Anfälle mehrmals täglich auf.
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Daneben berichtet der Vater über seit jeher bestehende sehr arge Erziehungsschwierigkeiten, über die hochgradige Unruhe des Knaben, über seinen Ungehorsam, seine Unverträglichkeit, über Bosheitsakte u. dgl.
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Die körperliche Untersuchung ergab bis auf eine geringe Steigerung der Patellarsehnenreflexe kein von der Norm abweichendes Resultat. Auch in seinem Aussehen war er nicht auffälig; vielleicht war die Formation des Gesichte allzu primitiv, der Gesichtsausdruck im Vergleich zu der sonst so lebhaften Motorik zu stumpf und leer.
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Etwas verstärkte Salivation, besonders unmittelbar vor den Anfällen.
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Während seines Aufenthaltes in der Abteilung hatte er häufige leichtere und schwerere epileptische Anfälle.
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Die Intelligenzprüfung ergab als Resultat eine ausgesprochene Debilität. In der Legende sur Prüfung heißt es: « Er spricht und singt ununterbrochen, kennt sehr viele Melodien, Schlager, Lieder seiner Heimat, Kinderlieder. Er singt die Melodien auch richtig, die Worte größtenteils unverständlich. Auch sonst ist seine Sprache schwer verständlich. Er spricht mit ausdrucksvoller Sprachmelodie und Geste, aber sehr schlechter Artikulation. Meist versteht man nur die Geste und muß sich die Worte rekonstruieren.—
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Seine Stärke ist seine körperliche Behendigkeit. Er ist sehr beweglich und hat eine besonders gute Klettertechnik. — Durch seine guten Gesten und seine Behendigkeit wird seine Dummheit gut maskiert. »
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In seiner psychopathischen Reaktionsweise, also in seinem Benehmen und Verhalten zu den Dingen und Personen seiner Umgebung war er nach der üblichen diagnostischen Nomenklatur als « erethischer Debiler » zu bezeichnen. Er zeigte die charakteristische Unruhe, das rastlose Abschweifen von Handlung zu Handlung, den ununterbrochenen Beginn verschiedener Aktionen. Dauernd und geschwinde lief er hin und her, begann hier etwas, dort etwas, mit der gewichtigen Geste eines Menschen, der sich in ein besonderes und schwieriges Unternehmen einläßt, machte rasch ein paar Handgriffe und war auch schon bei etwas anderem und mit keinem Mittel zu seiner früheren Tätigkeit zurückzubringen. Auch wenn er untertags im Bett bleiben mußte, war er in dauernder Unruhe und Bewegung, turnte, kletterte und hangelte geschickt am Gitter seines Bettes herum. Der Vergleich mit einem Affen in einem Käfig drängte sich unwillkürlich auf.
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Auch epileptoide Züge waren in seinem Wesen. Am charakteristischsten war da seine Lästigkeit, die Art wie er ohne Unterschied der Person gegen jedermann, der ihm eben in den Weg kam, gleichmäßig zärtlich war, besonders dann, wenn er einem Wunsch durchsetzen wollte; da war es unmöglich, ihn abzuschütteln, da er ohne Rücksicht auf die Notwendigkeiten der gegebenen Situation nicht aufhörte, immer wieder endlos und eintönig das gleiche zu verlangen. Auch in der Art, wie er sich überall, wohin immer er versetz wurde, ungeniert und rücksichtslos zu benehmen wußte, wie er nichts von dem fühlte, was in und mit den Menschen seiner Umgebung vorging, zeigte er sich ähnlich dem, was man so häufig bei epileptischen Kindern sieht.
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Jedoch er hatte für den Beobachter, vor allem für den Erzieher auch Ähnlichkeit mit jenen triebhaften postenzephalitischen Dissozialen, von denen früher gesprochen wurde. Plötzlich, ehe man sich dessen versah, beging er irgendwelche Bosheits- oder Unfughandlungen, vollführte einen wohlgezielten Angriff auf ein anderes Kind oder einen Erwachsenen, dem er eben feindlich gesinnt war, entwischte dem Erzieher, wenn der noch so gut aufpaßte, bemächtige sich eines Gegenstandes und zerstörte ihn, bevor man noch eingreifen konnte u. dgl. Auch jene besondere Art der Motorik hatte er mit den postenzephalitischen Dissozialen gemeinsam, die überbehende Beweglichkeit, die unerhörte Sicherheit, mit der er für jede Aktion, ohne zu überlegen, genau diejenigen Wendungen, Bewegungen, Griffe fand, die gerade am besten und sichersten zum Ziele führten, die vollkommene Furcht- und Schwindelfreiheit, mit der er seine Kletterkünste und Purzelbäume vollführte. Sie wirkten dadurch wie richtige artistische Leistungen und wurden auch dementsprechend von jedermann bewundert. Dazu kam, daß auch der Wechsel der Intentionen bei ihm gesprochen wurde, so daß man nie voraussehen konnte, was im nächsten Augenblicke geschehen werde; daher hatte man mit seiner Beaufsichtigung und der Verhinderung unerwünschter Handlungen ganz ähnliche Schwierigkeiten wie sie früher geschildert wurden. Für denjenigen, der die « pathologisch gute Motorik » der Enzephalitiker kannte, war die Ähnlichkeit in die Augen springend und man war geneigt, nach diesem Eindruck ohne weiteres die Diagnose « Dissozialität nach Enzephalitis epidemica » zu stellen, solange man noch nichts von den andern, gar nicht dieses Syndrom passenden Symptomen wußte. Er war auch genau so wie jene triebhaften Enzephalitiker jederzeit nur vom Augenblick und seinen Einflüssen abhängig, konnte wie es die Situation ihm eben eingab, plötzlich irgendeinen Bosheitsakt begehen und rührend betteln und bitten, tiefe Reue zeigen oder infam schimpfen, um im nächsten Augenblick den Erzieher durch irgendeine ganz andere Gesinnung zu überraschen und zu enttäuschen.
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Im folgenden zweiten Teil dieser Arbeit wird es sich darum handeln, zu zeigen, daß diese Triebhandlungen mit allen ihren charakteristischen Eigenschaften, wie sie eben bei der Dissozialität nach Enzephalitis epidemica beschrieben wurden, auch innerhalb sehr verschiedener anderer psychopathischer Syndrome vorkommen können, ja daß sogar jeder gesunde Mensch die Möglichkeit und Fähigkeit in sich trägt, ausnahmsweise unter außerordentlichen Verhältnissen eine solche Triebhandlung zu vollziehen. In pathologischen Fällen ist das Gesamtbild des betreffenden psychiatrischen Zustandes ein durchaus verschiedenes, je nachdem durch welchen pathologischen Mechanismus die Triebhandlungen verursacht werden und je nachdem vor allem, was für abnorme Erscheinungen sonst noch vorhanden sind. Nur die einzelnen Triebhandlungen bleiben sich stets gleich und durch sie erhält ihr Träger im Augenblick, da er sie vollzieht, eine gewisse Ähnlichkeit mit einem dissozialen Enzephalitiker, wie sehr sich auch sonst sein Verhalten von diesem unterscheiden mag. Und wenn man ein Kind in einem Zustande sieht, in dem es hintereinander in ununterbrochener Folge zahlreiche Triebhandlungen begeht, dann gleicht seine Handlungsweise für die Dauer dieser Folge stets der Handlungsweiser des Enzephalitischen, und man könnte geneigt sein, auf Grund dieser Ähnlichkeit oder Gleichheit auch die Krankheitsdiagnose « Dissozialität nach Enzephalitis epidemica » zu stellen. Bis sich bei weiterer Beobachtung oder bei über den Gesamteindruck hinausgehender Symptomanalyse Erscheinungen darstellen, die unmöglich mehr mit dem wissenschaftlichen Bilde der Enzephalitis epidemica in Einklang gebracht werden können.
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Fall 3 ist dafür ein gutes Beispiel. Die « enzephalitische Note » war hier für den Beobachter unverkennbar. Und wenn man in der Analyse dieses Phänomen der Ähnlichkeit mit der Enzephalitis epidemica aufzulösen trachtete, fand man, daß beiden psychopathischen Zuständen diese von uns als « Triebhandlung » bezeichnete Handlungsweise mit den Erscheinungen des « unmittelbaren Intentionswechsels », der « pathologisch guten Motorik », der « Augenblicksbedingheit » und « Kurzschlüssigkeit » der Handlungen gemeinsam war. Im übrigen jedoch war dieses Krankheitsbild sowohl in seinem Verlauf als auch in seinen Symptomen von der Dissozialität nach Enzephalitis epidemica durchaus verschieden. Offenbar handelte es sich hier um eine ganz andere Krankheit, eine in frühester Kindheit erworbene oder kongenitale cerebrale Störung unbekannter Genese mit epileptischen Anfällen und einer tiefgreifenden Störung der intellektuellen Entwicklung. Wir wiesen bereits während der Fallbeschreibung darauf hin, daß man dieses Bild nach üblicher psychiatrischer Nomenklatur sowohl als « Epilepsie mit entsprechender psychopathischer Reaktionsweise » wie auch als « erethische Imbezillität » wie auch als « enzephalitisch » bezeichnen könnte. Aber es wäre ein grober Fehler, würde man übersehen, daß der Ausdruck « enzephalitisch » hier einen Bedeutungswechsel durchgemacht hat und nicht mehr die Genese aus der Enzephalitis epidemica anzeigt, sondern nur die Ähnlichkeit mit der psychopathischen Reaktionsweise beim postenzephalitischen Zustand. Dies gilt jedoch von allen drei hier genannten Diagnosen. Keine von ihnen bedeutet eine bestimmte selbständige Krankheit mit bekannten pathologisch-anatomischen Substrat, bekannten Verlauf usw., sondern es weist jede nur auf bestimmte krankhafte Erscheinungen hin, die alle (ähnlich wie die Parkinsonismus) sehr verschiedener Krankheitsgenese sein können. Es ist klar, daß diese drei diagnostischen Ausdrücke einander nicht ausschließen müssen, wenn sie nur als Bezeichnungen für Gruppen zusammengehöriger Symptome und nicht für Krankenheiten gebraucht werden. Die Erscheinungen, deren Vorhandensein jeder von ihnen anzeigt, können nebeneinander bestehen und Folge eines einzigen zerebralen Krankheitsprozesses sein: die epileptischen Anfälle, die eigentümliche epileptoide Kontaktsucht, die Störung der Intelligenzentwicklung und die Triebenthemmung können ohne weiteres gleichzeitig am gleichen Falle vorkommen. Das durch diese Symptomkombination entstehende schwerpsychopathische Krankheitsbild erscheint nur dann « atypisch », wenn man es mit jenen Krankheiten, mit denen es nur einige Züge gemeinsam hat, zur vollständigen Deckung bringen möchte.
3. Triebhandlungen beim « Zustand nach frühzerebraler Störung ».
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Fall 3 kann als Repräsentant für eine ganze Gruppe Schwachsinniger, triebhafter Psychopathen gelten, die trotz großer Mannigfaltigkeit der Symptome in diagnostischer Hinsicht eine gewisse Einheit bilden. In allen diesen Fällen finden sich neben der gewöhnlich sehr schweren Intelligenzstörung und der noch näher zu beschreibenden Form der Triebenthemmung auch sonst noch deutliche neurologische und psychiatrische Symptome. Anamnese und Charakter der neurologischen Symptome weisen auf einen bei der Geburt oder in allerfrühester Kindheit stattgefundenen und unter schwerer Defektbildung ausgeheilten zerebralen Prozeß hin.
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Über die Häufigkeit dieser Fälle kann man sich aus folgenden Zahlen ein beiläufiges Bild machen: Von ungefähr 900 Fällen, die in den Jahren 1931-1936 an die Heilpädagogische Abteilung aufgenommen wurden, tragen 74 als Haupt- oder Nebendiagnose die Bezeichnung « Triebhaftigkeit ». Unter diesen finden sich 12, die der hier beschriebenen Gruppe angehören. Doch gibt dieses Zahlenverhältnis sicher kein korrektes, sondern nur ein ungefähres Bild von der relativen Häufigkeit dieser Fälle, da in diese Zahlen nur die and die Abteilung aufgenommenen und genau beobachteten Kinder eingerechnet sind, nicht aber die nur ambulatorisch untersuchten Fälle. Gerade diese schwer gestörten, imbezillen oder idiotischen Kinder sind im allgemeinen diagnostisch klar, so daß bei ihnen eine ambulatorische Untersuchung genügt. Im Gesamtmaterial der Klinik würde sich also das Zahlenverhaltnis zugunsten dieser Gruppe verschieben.
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Wir verzichten hier auf eine genaue symptomatologische Beschreibung dieser Störung, da dies allzuweit von der eigentlichen Aufgabe dieser Arbeit ablenken würde. Es handelt sich uns hauptsächlich darum, das Aussehen der Triebhandlungen bei diesen Fälllen zu beschreiben. Eine flüchtige Skizzierung ihrer Symptomatologie ist aber doch notwendig, um ein ungefähres Bild von ihrer Art und Beschaffenheit zu geben:
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Es handelt sich, wie gesagt, in allen diesen Fällen um tiefstehend schwachsinnige, imbezille oder idiotische Kinder, bei denen neben der Intelligenzanomalie regelmäßig eine Reihe anderer psychiatrischer Symptome zu finden ist. Hierher ist vor allem die Kontaktstörung zu rechnen; in den meisten Fällen ist nicht wie in Fall 3 die Klebrigkeit und Lästigkeit der epileptoiden Kontaktsucht vorhanden, sondern im Gegenteil eine ganz weitgehende Unterbrechung des affektiven Kontaktes bis zum vollkommenen Fehlen jeglicher Beziehung zwischen dem Kind und den Personen seiner Umgebung. Durch einen solchen extremen Autismus erhält das Gesamtbild des betreffenden Falles eine ganz besondere Färbung; es gewinnt durch dieses eine Symptom große Ähnlichkeit mit dem Bild der Dementia infantilis (Heller). — Zwei weitere, fast regelmäßig vorhandene Symptome‚ die sich offenbar gegenseitig bedingen oder wenigstens weitgehend voneinander abhängen, sind die oft hochgradige erethische Unruhe und die Konzentrationsunfähigkeit. — Über das Symptom der Triebhandlungen wird noch ausführlich zu sprechen sein.
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In allen diesen Fällen finden sich ferner irgendwelche neurologischen Symptome. Sie können sehr verschiedener Art sein, Erscheinungen Littlescher Starre, athetoide Hyperkinesen, ataktische Bilder, besonders häufig apraxieähnliche Störungen der Psychomotorik, die in der Erziehung als extremste Ungeschicklichkeit, Unbeholfenheit oder Hilflosigkeit in Erscheinung treten. Daneben finden sich fast immer auch Symptome, die von der Enzephalitis epidemica her bekannt sind, angedeuteter Parkinsonismus, vegetative Erscheinungen, Schlafstörungen, Störungen der Affektregulation. Als cerebrales Symptom sind hier auch Wachstumsstörungen und Veränderungen der Gesamtkonstitution anzuführen. Besonders häufig scheinen Hochwuchsformen mit extremer Magerkeit zu sein.
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In allen diesen Fällen besteht die Störung unverändert seit der Geburt oder seit allerfrühester Kindheit. Es ist dies eines der wesentlichsten Unterscheidungsmerkmale gegenüber den echten Zuständen nach Enzephalitis epidemica, bei denen, wenn auch die akute Krankheit unbemerkt verlaufen sein sollte, mindestens der Zeitpunkt im späteren Kindesalter festzustellen ist, in dem die Wesensveränderung eingetreten ist. — Eine Krankheitsursache ist manchmal überhaupt nicht nachweisbar, sehr oft berichten die Eltern über Geburtstraumen (auffallend häufig Zangengeburten), Störungen des Geburtsverlaufes oder der Neugeborenenperiode (Asphyxie, Krämpfe in den ersten Lebenstagen oder -wochen), auch über schwere Krankenheiten der Säuglingszeit. Hirnblutungen während der Geburt und Enzephalitiden in einer allerfrühesten Entwicklungsperiode sind wohl die häufigste Ursache der Störung.
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Es muß sich in diesen Fällen früherworbener zerebraler Schädigung wohl so verhalten, daß die betreffende Noxe gleichzeitig sehr verschiedene Hirnpartien trifft und auf diese Weise so tiefgreifende und komplexe Funktionsstörungen des nervösen Apparates schaffen kann. Das Auftreten von grippeenzephalitischen Symptomen hängt dann offenbar nur davon ab, ob die entsprechenden pallidostriären Zentren mitbetroffen sind.
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Im Zusammenhang dieser Arbeit interessiert die besondere Form der Triebhandlungen in diesen Fällen, weil sich daraus wieder allgemeine Schlüsse auf das Wesen und die besonderen Eigenschaften der Triebhandlungen überhaupt ziehen lassen. Auch in diesen Fällen ist, ähnlich wie bei der echten postenzephalitischen Dissozialität, die Triebhaftigkeit oft so enorm gesteigert, daß Triebhandlungen überaus häufig vor sich gehen. Um sie zu Gesicht zu bekommen, genügt es daher auch hier ähnlich wie beim Enzephalitiker, daß man nur einige Zeit als Erzieher oder Beobachter mit dem Kinde beisammen ist. Es ist dann leicht, die typenmäßige Ähnlichkeit dieser Handlungsform bei beiden Krankheiten zu sehen, und dann in der Analyse auch ihre prinzipielle Gleichheit festzustellen. Nur sind bei diesen Schwachsinnigen die Eigentümlichkeiten der Triebhandlung womöglich noch schärfer herausgearbeitet, weil sie gewöhnlich in krassem Gegensatz zur sonstigen Handlungsweise dieser Kinder stehen.
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Es verhält sich ja hier nicht so wie beim postenzephalitisch Dissozialen, daß die Triebhandlung die einzige oder nahezu die einzige Handlungsform ist, die dem Kranken zur Verfügung steht, daß also in ununterbrochener Folge Triebhandlung auf Triebhandlung folgt. Vielmehr ist der Charakter des gewöhnlichen Tuns und Verhaltens bei diesen Kindern stets ein ganz anderer, wenn auch gleichfalls sehr abnormer. Die Grundhaltung eines solchen Kindes kann z. B. eine leere « erethische » Handlungsunruhe oder torpides Nichtstun oder katatones Perseverieren in einer stereotypen Bewegung oder auch einigermaßen geordnetes Handeln sein; es können auch beim gleichen Individuum verschiedene dieser Handlungsformen wechseln. Wenn dann bei entsprechendem Anlaß plötzlich eine einzelne Triebhandlung aufschießt, wirkt sie, gemessen and der Folie der ganz anders gearteten habituellen Handlungsweise um so krasser und ganz anders als beim Enzephalitiker, bei dem die Triebhandlung selbst die habituelle Grundform des Handelns ist.
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Wenn sich die Triebhandlung an ein solches indifferentes Tun anschließt, wird dadurch der « unvermittelte Intentionswechsel » besonders auffallend. So ein schwachsinniges Kind sitz z. B. an einem Tisch und hantiert ruhig mit Bausteinen, die in größerer Menge vor ihm aufgehäuft sind. Plötzlich, dem Mitspielenden völlig unerwartet, wischt es mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung sämtliche Steine hinunter, daß sie weithin durch das Zimmer fliegen. — Oder ein Kind, das bisher untätig und leer dasaß, schießt plötzlich, ohne irgendeine Vorbereitung zur Tür hinaus ins Freie, oder bemächtig sich eines Gegenstandes und wirft ihn zum Fenster hinaus oder zerreißt ihn oder stellt sonst irgend etwas an, wovon es weiß, daß es dem Erwachsenen recht unangenehm ist. — Oder ein Kind irrt in erethischer Unruhe und vollkommen autistisch abgesperrt zwischen einer Menge spielender Kinder umher, sie nicht beachtend und von ihnen nicht beachtet. Bis es, an einem kleinen Mädchen vorbeigehend, mit der Hand ausfährt, in dessen Haare greift und mit aller Macht daran zieht; oder mit Zielscherheit mit dem Fuß an ein von den Kindern errichtetes Bauwerk anstößt, so daß es unter Gepolter zusammenstürzt. Fast immer erkennt man nach einer solchen gelungenen Tat and dem autistischen, selig-boshaften Lächeln und den krampfhaft-ekstatischen Bewegungsentladungen den Genuß, den die Tat bereitet hat.
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Auch das, was bei der Besprechung der postenzephalitischen Dissozialität die « pathologisch gute Motorik » in der Triebhandlung genannt wurde, ist in diesen Fällen besonders deutlich zu sehen, und es ist hier auch einwandfrei festzustellen, daß es wirklich nur eine Besonderheit der Triebhandlung ist. Fast alle diese Kinder sind ja abnorm ungeschickt oder versteift oder sonst in ihrer motorischen Leistungsfähigkeit sehr beeinträchtigt. Dies gilt aber nur außerhalb der Triebhandlungen; in ihnen dagegen werden die Bewegungen auch des unbeholfensten dieser Kinder plötzlich blitzschnell und zielsicher. Oft kann man gar nicht verfolgen, wie die betreffende Leistung zustande kam, da es sich kaum je um längere Handlungsabläufe, sondern gewöhnlich um ein im Augenblick erledigtes Geschehen, eine mit ungewöhnlicher Schnelligkeit ausgeführte Einzelbewegung handelt. Sie ist vollendet, bevor der Erwachsene nur darauf aufmerksam wird, so daß er nur ihren Erfolg sieht. Aber der Gegensatz ist immer wieder erstaunlich: ein Kind, das, wenn ihm etwas befohlen wird, dies nur mühsam, ganz langsam und mit vielen ausfahrenden Bewegungen ausführen kann, vollzieht im Akte der Triebhandlung gleiche oder ähnliche Bewegungen mit unerhörter Geschwindigkeit und Geschicklichkeit.
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Auch das bekannte « Raffinement » vieler Schwachsinniger, das die Eltern immer wieder täuscht und ihnen Hoffnungen bezüglich des Verstandes des Kindes gibt, ist in Wahrheit sehr oft nur ein Raffinement innerhalb der Triebhandlung; mit Intellekt und Willen hat es nicht zu tun. Auch hier ist der Gegensatz besonders kraß, da diese Kinder im allgemeinen zu keinem halbwegs geordneten und situationsangepaßten Tun fähig sind, dagegen bei gewissen unerlaubten Handlungen so berechnend vorgehen und so das richtige treffen wie kaum ein Gesunder. Gewönlich handelt es sich um primitive Akte der Bosheit, der Aggression, des Zerstörungsdranges, des Entwischens aus der Bewachung, des Aneignens von Eßbarem, von verbotenen Gegenständen u. dgl. Die Sicherheit, mit der z. B. im Bosheitsakte dasjenige getroffen wird, was dem Erwachsenen so recht unangenehm sein muß, ist bei diesen sonst so blöden Kindern wirklich erstaunlich. Erstaunlich auch die Fähigkeit, bei einem Diebstahl oder Fluchtversuch stets den richtigen Zeitpunkt für die Tat zu erspähen und einen den Umständen wunderbar angepaßten Weg der Ausführung zu finden. — Sehr oft hat dieses Nebeneinander von Handlungen, in denen sich das Kind dumm und hliflos, und solchen, in denen es sich als der Schlaue und Überlegne zeigt, eine spezifisch komische Wirkung, besonders in den Fällen, in denen diese Kinder wirklich einen gewissen Sinn für Humor zu entwickeln scheinen und in denen es sich nur um kleine, mehr spielerische Bosheitsakte handelt, die nicht eigentlich gefährlich sind und nicht den Charakter richtiger Bösartigkeit tragen.
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Noch eine charakteristische Eigenschaft der Triebhandlung ist nachzutragen, die bei der eben besprochenen Psychopathieform besonders deutlich wird. Mit Ausnahme der Dissozialität nach Enzephalitis epidemica, bei der es wie gesagt fast nur Triebhandlungen gibt und daher die Folie andersgearteter Handlungsformen fehlt, ist in allen Fällen gesteigerter Triebhaftigkeit eine starke phänomenologische Gegensätzlichkeit zwischen dem alltäglichen und gewohnten Benehmen des Individuums und der plötzlich hervorbrechenden Triebhandlung vorhanden. Es handelt sich hier vor allem um einen subjektiven Eindruck des Beobachters oder Erziehers, dem es im Augenblick der hereinbrechenden Triebhandlung scheint, als ob die Persönlichkeit seines Zöglings verändert, als ob plötzlich ein anderer Mensch mit neuen Charaktereigenschaften, Kräften, Fähigkeiten vorhanden wäre. Unter dem Namen « Zweiphasigkeit des Triebhaften » wird diese Erscheinung in dieser Arbeit noch öfter besprochen werden.
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Bereits früher, bei der Besprechung des Parkinsonismus, wurde auf diese Erscheinung hingewiesen. Beim Parkinsonistischen ist für das alltägliche und gewohnte Verhalten des Kranken das überaus verlangsamte Handlungstempo, die Bewegungsarmut und Steifheit aller Bewegungen, die Unfähigkeit, länger dauernde Aktionen zu vollenden, charakteristisch. Aber hie und da wird diese schwere motorische Störung im « unvermittelten Intentionswechsel » von Triebimpulsen unterbrochen, in denen die pathologische Versteifung vorübergehend verschwindet und der « pathologisches guten Motorik » Platz macht. Plötzlich kommt es zu blitzartigen, ausgezeichnet durchgeführten Aktionen, nach deren Vollendung der Kranke sofort wieder in seine frühere Versteifung verfällt. Da dieser Wechsel allen gewöhnlichen Vorstellungen von Lähmung und motorischer Störung widerspricht und da man allgemein annimmt, daß ein Mensch später müsse vollbringen können, wird der Erzieher in diesen Fällen immer wieder verleitet, Schwindel und Simulation anzunehmen.
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Bei jenen triebhaften Schwachsinnigen, von denen soeben die Rede war, ist der Gegensatz zwischen Triebhandlung und sonstiger Verhaltensweise gleichfalls ein krasser. Das gewohnte und vom Erzieher erwartete Benehmen ist da ein blödes oder ungeschicktes oder katatones oder erethisch zielloses, die vorkommenden Triebhandlungen scheinen im Gegensatz dazu — trotz ihres gewöhnlich dissozialen Charakters — unerklärlich hoch organisiert, weil sie plan- und zielvoll sind und mit Hilfe einer ausgezeichneten Motorik ausgeführt werden.
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In beiden Fällen, sowohl beim Schwachsinnigen wie beim Parkinsonistischen ist gegenüber der sonst so schwer gestörten Handlungsweise die Triebhandlung das relativ höherwertige. Wenn aber Triebhandlungen bei Menschen mit weniger gestörter Persönlichkeit und daher weniger abnormer Verhaltensweise vorkommen, sind sie das relativ Mindere und niedriger Organisierte, das plötzlich zwischen höher gearteten Handlungsformen hervorbricht. Auch dann wirken sie merkwürdig fremd im sonstigen Persönlichkeitsbilde desBetreffenden, oft wie ein unverständliches zweites Ich, das an Stelle des eigenen getreten ist. Wenn man einen sonst geordneten Menschen einmal im Stadium der Triebhandlung antrifft, dann hat er stets etwas Unheimliches an sich. Dieser sonst in gutem Kontakt mit seiner Umgebung stehende Mensch ist plötzlich fremd und unzugänglich geworden; blitzschnell, ohne Überlegung und rücksichtslos tut er, wozu es ihn treibt und begeht Handlungen, die man ihm sonst nicht zugetraut haben würde und die gar nicht zu seinem Charakter zu passen scheinen. Er ist in diesem Augenblick taub für Zurufe, scheint jedes Gefühl für Autorität und Disziplin verloren zu haben, tut Dinge, die jeder Vernunft spotten und durch die er unter Umständen sich selbst oder andere sehr gefährdet oder schädigt. Man begreift, daß eine geistergläubige Zeit glauben konnte, ein solcher Mensch sein von einem an seiner Stelle handelnden Dämon besessen.
4. Triebhandlungen und Haltlosigkeit. Der süchtige Charakter.
Ein besonders klares Bild solcher isolierter Triebhandlungen bei einer sonst — scheinbar — intakten Persönlichkeit bietet der folgende Fall :
Man stelle sich diesen Jungen etwa im einmaligen psychiatrischen Examen oder bei der Untersuchung in einer Erziehungsberatungsstelle vor und stelle sich auch das Resultat vor, das eine solche Untersuchung haben könnte: man würde einen gesunden, kräftigen Gymnasiasten vor sich sehen, mit hübschem, juvenilem Gesicht ohne mindeste degenerative oder dysplastische Züge, liebenswürdig mit ausgezeichnetem, freiem, Bildung verratendem Benehmen. Sofort, vielleicht ein wenig zu rasch würde man als Fremder in ein Gespräch mit ihm kommen und das angenehme Gefühl eines sehr guten, mühelosen Kontaktes mit ihm haben. Er würde ohne weiteres über sein Leben berichten, auf jedes eingeschlagene Thema leicht eingehen, von seinem guten Beziehungen [430] zu seinem Angehörigen, seinem guten sportlichen, seinen schlechten Schulleistungen, seinen Stadterlebnissen mit Kostfrauen u. dgl. vernünftig und mit Humor erzählen. Eine eventuell vorgenommene Intelligenzprüfung würde ein weit überdurchschnittliches Resultat ergeben. Im ganzen würde man den Eindrucj eines besonders sympathischen, heiteren, wohlgebildeten und mit vielen guten Eigenschaften ausgestatteten Menschen gewinnen. Höchstens der etwas nervös flackernde Blick und eine gewisse Unruhe in den Bewegungen würden vielleicht auffallen; doch würde man dies wahrschainlich auf die peinliche Verlegenheit zurückführen, die ein solches Examen bei einem so arg belasteten Menschen hervorrufen muß. Daß diese nervöse Unrast nicht nur der Schwierigkeit der augenblicklichen Situation entspringt, sondern eines seiner wesentlichsten Persönlichkeitsmerkmale sei, könnte man bei einmaliger Untersuchung unmöglich erkennen. Keinesfalls würde man ihm nach einem solchen einmaligen Gespräch diese unheimlichen und — objektiv betrachtet — doch bösartigen Brandstiftungen zutrauen. Zwischen dieser heiteren, scheinbar harmonischen und ausgeglichenen Persönlichkeit und jener anderen, die des Nachts in Ställe schleicht und sie anzündet, fehlt jede Brücke psychologischen Verstehens. Wir sind nicht imstande, die beiden in der Vorstellung zu einer Einheit zu verschmelzen. Darstellungen von Menschen mit Doppelleben, wie sie in Kriminalromanen und Filmen vorkommen, tauchen auf; auch da handelt es sich immer um das Nebeneinanderbestehen zweier scheinbar unvereinbarer Charaktere beim gleichen Menschen: treue Ehegattinnen und zärtliche Mütter, die es zu Zeiten treibt, als Kokotten auf die Straße oder in üble Lokale zu gehen, ehrenwerte Männer, die nachts als Apachen einbrechen oder in Spelunken verbrecherische Pläne schmieden.
Zur Gänze erfunden sind solche Gestalten gewiß nicht. Diesen Gegensatz zwischen den beiden Handlungsformen und damit eben jene Zweiphasigkeit im Leben mancher Menschen gibt es. Lernt man aber die Menschen, in denen solche scheinbar unerklärliche Gegensätze vereint sind, näher kennen — und zwar nicht bloß in der einseitigen Beleuchtung des Gespräches unter vier Augen, sondern im wirklichen Leben mit seinen verschiedenartigen Anforderungen, Schwierigkeiten, Lockungen, dann kommt schließlich — vielleicht erst nach Wochen oder Monaten — der Augenblick, in dem dem Beobachter die Struktur der betreffenden Persönlichkeit mit allen ihren Möglichkeiten und Gegensätzen klar wird. Dann fügen sich auch scheinbar ganz widersprechende Eigenschaften und Handlungen in der Vorstellung des Beobachters zu dem Bilde einer einmaligen, harmonischen Persönlichkeitseinheit.
Wenn man vor die Aufgabe gestellt ist, gewisse abnorme oder auffällige oder dissoziale oder kriminelle Handlungen eines Menschen psychologisch zu deuten, wird man diese Aufgabe stets in zwei Teilfragen zerlegen müssen: 1. welcher Art die in Frage stehenden Handlungen sind und 2. welcher besonderen Beschaffenheit des Individuums es zuzuschreiben ist, daß es zu Handlungen dieser bestimmten Art kommen konnte. Die erste Frage beantworten wir, wenn wir feststellen: Dies ist eine Triebhandlung, dies ein Reflexvorgang, diese Handlung ist eretisch-leer, diese vorsätzlich und vom Verstand geleitet usw. Sogleich wird es aber auch wichtig, die zweite Frage zu beantworten. Es ist notwendig, die spezielle Artung des Individuums kennen zu lernen, in der ja die wesentlichen Ursachen für das Entstehen der fraglichen Handlung liegen müssen.
Haben wir uns also bisher vor allem mit der ersten Frage beschäftig und rein beschreibend die typischen Eigenschaften der Triebhandlungen selbst festgestellt, so soll uns künftighin vor allem die zweite Frage — wodurch Triebhandlungen verursacht werden können — interessieren. Fall 4 kann für das hier Gemeinte sehr gut als Beispiel dienen. Die erste Frage läßt sich hier leicht beantworten. Es ist nicht zu bezweifeln, daß diese drei Brandstiftungen typische Triebhandlungen waren, unabhängig von Vernunft und Willen und ausgestattet mit der gleichen Eigenschaften, durch die auch die postenzephalitische Triebhandlung charakterisiert ist. Schwieriger ist die zweite Frage zu lösen: Es ist zunächst rätselhaft, wieso es bei diesem geistig anscheinend gesunden Menschen zu diesen argen Entgleisungen kommen konnte.
Es sei hier ausführlich der zusammenfassende Bericht über das Verhalten dieses Jungen während seines mehrwöchentlichen Aufenthaltes an der Heilpädagogischen Abteilung und über sein Wesen wiedergegeben. Solche Ausnahmshandlungen, wie sie oben geschildert wurden, kamen während dieser Zeit nicht vor, konnten in diesem schützenden Milieu auch nicht erwartet werden. Wohl aber ließ sich später aus der Kenntnis seines Wesens ihre Entstehung zwanglos erklären.
Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht notwendig, auf die schwierige Frage einzugehen, wohin dieses hier entwickelte psychopathische Zustandsbild diagnostisch einzureihen sei. Je nachdem, welche Symptomgruppe man in der Vordergrund stellt, scheint sich das Bild kaleidoskopartig zu verändern, während doch in Wahrheit der Beschauer jeweils nur eine andere Seite der sich stets gleichbleibenden einheitlichen Persönlichkeit beleuchtet. — Man könnte die allzu heitere Stimmungslage dieses Jungen in das Zentrum der Betrachtung stellen und ihn als « submanisch » bezeichnen. Auch seine Neigung zu plötzlichen, rasch vorübergehenden Affektausbrüchen, seine nervöse Unrast und Unstetheit, seine Beschwingtheit, Sorglosigkeit, seine Fähigkeit, sich Sympathien zu erwerben, [434] passen gut zu dieser Diagnose. — Man könnte bei der diagnostischen Beurteilung dieses Zustandsbildes von hirnpathologischen Vorstellungen ausgehen und dementsprechend die vorhandenen körperlich-nervösen Symptome in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Dann müßte man von einem « neuropatischen Zustande » sprechen. Die vorhandenen, stark ausgeprägten vegetativen und vasomotorischen Erscheinungen und die körperlichen Zeichen motorischer Unruhe und Getriebenheit sind ja gewiß nicht nur zufällige Begleiterscheinungen, sondern stehen als physische Korrelate in irgendeinem kausalen Zusammenhang mit den bestehenden psychopathischen Symptomen. — Man könnte bei diesem Jungen auch die Diagnose « haltlos » anwenden, da er in seinen Handlungen so wenig gerichtet und beharrlich ist und Verlockungen der Außenwelt, von seiner Stimmung und von den eben in ihm aufschießenden Wünschen und Impulsen.
Immer wieder, wenn man Jugendliche vom Typus des Falles 4 näher kennen lernt, drängen sich dem Beobachter charakterliche Ähnlichkeiten mit giftsüchtigen Menschen auf. Man könnte von diesem Jungen auch als von einem süchtigen Charakter sprechen, wenn als wesentlichster Grundzug der Süchtigkeit die Unfähigkeit dieser Menschen angesehen wird, auf Wünsche zu verzichten und Beschwerliches und Unangenehmes zu ertragen. Relativ geringe Unlust- und Spannungsgefühle werden von ihnen offenbar besonders intensiv als körperliche Qual empfunden, die sie um jeden Preis loszuwerden gezwungen sind. Dies war auch aus dem Verhalten dieses Jungen in Konflikten oder in einer unangenehmen Situation oder wenn er auf etwas verzichten oder bei einer unangenehmen Arbeit ausharren sollte, zu erkennen. Dann strebte er stets blindlings und rücksichtslos, « kurzschlußartig » (um dieses Wort auch hier zu gebrauchen) die Beseitigung der unlustbetonten Spannung an. Wurde er daran gehindert, dann setzte sofort eine unheimlich strake vegetative und Affektreaktion ein und er kämpfte und wehrte sich mit einer Stärke und rücksichtslosigkeit, aus der zu erkennen war, was für elementare Kräfte da zur lösenden Fandlung drängten. Ganz ähnlich verhalten sich giftsüchtige Menschen in der Abstinenz: Die Brutalität, Unbedenklichkeit, Rücksichtslosigkeit, mit denen der Giftgenuß angestrebt, bezw. gegen den Giftentzug gekämpft wird, sond von prinzipiell gleicher Art wie bei diesen « Haltlosen » in der Wunschverweigerung, aber auch von ähnlicher Art wie bei den postenzephalitischen Dissozialen in der Triebhandlung. Schließlich handelt eben auch der Giftsüchtige unter dem Zwange eines übermächtigen Triebes.