autismuseum : le labo : George Frankl : Befehlen und Gehorchen. Eine heilpädagogische Studie. Teil 1 [1934]

auteurGeorge Frankl
titre originalBefehlen und Gehorchen. Eine heilpädagogische Studie. Teil 1
date de publication1934
référenceZeitschrift für Kinderforschung, 1934, 42, pp. 463-479
texteintégral
sourceBibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF Berlin
La numérotation à gauche du texte est celle des paragraphes de l’édition originale, les numéros de pages originaux sont insérés entre crochets dans le texte.

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[463] In einem Gasthause beim Mittagessen konnte ich einmal an zwei Hunden besonders deutlich demonstriert sehen, wie ein Befehl in richtiger und wie er in falscher Form gegeben werden kann. Beide Hunde sollten während der Mahlzeit ihren Herren Gesellschaft leisten. Der eine der beiden, ein lebhafter und nervöser Fox, bettelte seine Herrin fortwährend winselnd und heulend an. Diese aber redete ihm sanft und liebevoll zu, doch Ruhe zu geben und sich niederzulegen. Sie versicherte ihm, er werde sein Essen nachher schon bekommen, forderte ihn auf sich zu benehmen, wie es sich für einen braven Hund gehört. Doch sagte sie das alles mit so ruhiger, liebenswürdiger und wenig eindrucksvoller Stimme, daß es auf ihn keinen Eindruck machen konnte. Denn ein solches eintöniges Reden kann ein Hund sicher nur sehr mangelhaft verstehen. Sie war daher auch gezwungen, ihm hie und da einen Brocken zu-zuwerfen und ermutigte ihn dadurch noch zu weiterem Betteln.

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Der andere Hund, ein deutscher Boxer von beträchtlicher Größe, wurde ebenso wie der erste von seinem Herrn sehr geliebt und gut behandelt. Doch ein einfaches « Leg’ Dich! » genügte, ihn für die ganze Mahlzeit in einer Ecke zur Ruhe zu bringen. Allerdings hatte dieses Kommando die nötige suggestive Kraft, es war im richtigen, energisch-befehlenden — nicht unfreundlichen — Tone vorgebracht und von entsprechender Geste begleitet. Wille und Kraft, das Befohlene durchzusetzen, mußten zweifellos auch für den Hund zu spüren sein. Gewiß war gute Dressur Voraussetzung seines Gehorsams, trotzdem hätte er bestimmt nicht folgen können, hätte die Dame ihm in ihrer guten, aber ausdruckslosen Art zugesprochen.

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Diese Szene ist mir so gut im Gedächtnis geblieben, weil ich kurze Zeit Später eine ähnliche zwischen einem Kleinkind und seiner Mutter sich abspielen sah. Es war ein fünfjähriger, besonders unruhiger, lauter und schwer konzentrierbarer Bub. Wie sich später an der Beobachtungsstation zeigte, war er für die [464] suggestive Kraft einer eindringlichen Sprache besonders empfänglich. Mit diesem Kinde kam seine Mutter, eine ältliche, sehr abnorme Frau in unser Ambulatorium. Der Bub benahm sich da sehr schlecht, war überall dran, wo er nicht sein sollte und stellte allerlei an. Die Mutter aber schlich hiflos und verärgert hinter ihm her und sprach mit eintöniger Stimme und ausdruckslosem Gesichte etwa folgendes vor sich hin: « Aber mein Lieber, jetzt mußt Du das endlich stehen lassen, sonst werde ich mich ärgern, setz’ Dich doch daher. Schau nur wie brav die andern Kinder sind. » So ging es im moralisierenden Leierton weiter. Es war im Prinzip das gleiche wie in der Szene zwischen jener Dame und ihrem Fox. Der Bub apperzipierte dieses schwächliche Gerede kaum und wenn vielleicht nebenher etwas davon in sein Bewußtsein vordrang, so bestand doch für ihn nicht die geringste Nötigung, das Verlangte zu tun.

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Diese eben angeführten Szenen sind krasse Beispiele unangepaßter und daher falscher Befehlsgebung. Niemand wird aus ihnen den Schluß ziehen wollen, daß ein liebevolles Zureden unter allen Umständen und jedem Kinde gegenüber falsch und unangebracht sei; und ebensowenig, daß es immer notwendig sei, die Form des kurzen, energischen Kommandos zu wählen, wenn man von einem Kinde etwas erreichen will. Beide Formen sind als richtig denkbar oder als falsch. Es sollen jetzt zunächst die Bedingungen untersucht werden, von denen die richtige Anwendung der einen oder anderen Form abhängt.

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Eines zeigt sich sogleich: daß es nicht nur zwei entgegen-gesetzte Arten der Befehlsgebung gibt, eben diese Alternative zwischen Energie und Weichheit, sondern darüber hinaus unendlich viele Variationen und Nuancen. Um sich davon zu überzeugen, muß man sich nur den gleichen Befehl in seinen verschiedenen möglichen Formen vorstellen. Als Beispiel sei die Befehlsreihe gewählt, die sich von der indifferenten Imperativform „Komm’ her!“ ableitet. Da sind die energischen Ausdrücke „Wirst Du wohl herkommen!“ und „Gleich kommst Du her!“, das sachlich befehlende „Hieher!“, das dringend-wiederholende „So komm » doch endlich her!“, das konziliant bittende „Möchtest Du so gut sein herzukommen? »“, das die Notwendigkeit begründende „Komm’ her, damit …!“ Die Reihe ließe sich noch beliebig ausdehnen. Besonders reich an solchen oft sehr drastischen und plastischen Abwandlungen sind die verschiedenen Dialekte.

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Trotz ihres doch gleichen, sachlichen Inhaltes erscheinen alle diese Ausdrücke sehr voneinander verschieden. Durch Änderung der Satzstellung, Wechsel des Modus des Zeitwortes, Hinzufügung [465] verschiedener Adverbien oder Affektausdrücke gewinnen sie, immer dasselbe bezweckend, sehr verschiedene Färbungen. Es sind die unzähligen, den Ausdruck begleitenden Gefühle, Affekte, Gesinnungen, Erwartungen, Wünsche, die gewöhnlich nur auf diese Weise ausgedrückt werden und nicht in Worten, solche der Freundlichkeit, der Liebe, des Entgegenkommens, der guten Gesinnung, des Ärgers, Zornes, der Gleichgültigkeit, des Drohens, Bittens, Flehens, der Dringlichkeit, der Erregung usw.

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Allerdings sind selbt differenzierte Befehlsformen durch ihren grammatikalischen Aufbau allein, wie er sich im geschriebenen Worte darstellt, noch weitaus nicht eindeutig bestimmt. Erst wenn man sich vorstellt, mit welcher Betonung, mit welchem begleiten- den Gesten- und Mienenspiel der Befehl gegeben wird, wird er für den Zuschauer oder für den, der ihn entgegennimmt, eindeutig. Man kann sich z. B. vorstellen, daß der Ausdruck „Wirst Du endlich herkommen!“ einmal eine letzte Drohung vor einer Strafe bedeutet, ein anderes Mal einen empörten Ausruf oder einen resigniert verzweifelten Stoßseufzer oder eine nachdrücklich vorgebrachte Wiederholung früherer Befehle, anderseits auch einmal einen neckenden Ausruf eines Erwachsenen im Spiele mit einem Kleinkinde. Und gar der undifferenzierte Ausdruck „Komm? her!“ ist geschrieben und für sich allein betrachtet seinem Gefühlsgehalte nach vollkommen unbestimmt und kann unendlich vieles bedeuten. Sowie ihm aber eine bestimmte Form des Ausdrückens beigefügt wird, eine bestimmte Betonung, ein bestimmtes Mienen- und Gestenspiel, ist er auch seinem Gefühlsgehalte nach eindeutig bestimmt. Es ist selbstverständlich, daß dies nicht nur im Befehle gilt, sondern überall dort im menschlichen Verkehre, wo es sich darum handelt, mit einer sachlichen Mitteilung auch irgendwelche Gefühlsmomente auszudrücken.

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Es könnte einen Augenblick lang scheinen, als sei es dem freien Ermessen des Erziehers überlassen, sich aus diesem ungeheuren Arsenale unzählbarer Variationen, die für jede Anordnung durch Änderung ihres Gefühlsgehaltes zur Verfügung stehen, die auszusuchen, die beispielsweise seinem prinzipiellen, pädagogischen Standpunkte am besten entspricht. Der eine könnte sich vornehmen, seinen Zöglingen immer nur liebevoll zuzureden, ein anderer, ihnen alles, was sie tun sollen, kühl und vernunftgemäß als notwendig auseinanderzusetzen, ein dritter könnte sich prinzipiell auf einen kurz angebundenen Kommandoton einstellen.

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Daß dies unmöglich ist, ist einleuchtend. Das wesentlichste Hindernis dagegen liegt im Erzieher selbst, der sich in der lebendigen Situation dem Kinde gegenüber durchaus nicht nur [466] nach freiem Ermessen benehmen kann, wie es ihm Verstand oder vorgefaßte Meinung eingeben, sondern der von seiner eigenen, erlebenden und fühlenden Persönlichkeit abhängig ist. Was er durch seine Mienen, Gesten, die Betonung seiner Worte ausdrückt, können doch nur seine eigenen Gefühle sein, im Augenblick wirklich und unmittelbar Erlebtes. Das Kind soll nicht gemachte Gesten der Freundlichkeit oder des Zornes sehen, sondern den erzürnten oder freundlichen Menschen, vor dem es wirklich Furcht empfinden muß oder zu dem es Zuneigung empfinden kann. Es ist nicht möglich oder wenigstens nicht richtig, irgendein der eigenen Persönlichkeit durchaus fremdes Gefühl darzustellen, das man als natürlicher, naiver Mensch niemals empfunden hat. Solche fremden, nachgemachten, angenommenen Benehmensweisen wirken falsch, affiektiert oder lächerlich. Der kindliche Instinkt zieht ihnen gegenüber mit Recht seine Konsequenzen: er fürchtet eine Drohung nicht, die er als gespielt erkennt und reagiert auf gemimte Freundlichkeit gar nicht oder gerade mit Ablehnung.

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Eine zweite gesetzmäßige Einschränkung erfahren die unübersehbaren Variationsmöglichkeiten der Befehlsform durch den Charakter des Kindes, dem der Befehl erteilt wird. Man stelle sich einen Erzieher im Verkehre mit Kindern verschiedenen Charakters vor, jedem von ihnen einen Befehl gleichen sachlichen Inhaltes erteilend. Von jedem dieser Kinder hat er ein bestimmtes Bild: da sieht er z. B. ein empfindsames, ängstliches Mädchen, dann einen derben vitalen Buben, ein temperamentvolles und wieder ein eher ruhiges, passives Kind, ein autoritätsgläubiges und im Gegensatz dazu ein eigenwilliges. Nach Alter, nach Geschlecht, nach verschiedenen Charaktereigenschaften, nach Erfahrungen und Erlebnissen, die er mit ihnen und mit ähnlichen Kindern hatte, besitzt er eine äußerst komplexe Vorstellung von der Persönlichkeit jedes einzelnen und von seinem Seelenleben. Wenn er einen Befehl erteilt, kann er darin nicht irgendwelche beliebigen Gefühle seines Registers ausdrücken, sondern nur gerade diejenigen, die er diesem einen Kinde gegenüber empfindet. Eine außerordentlich feine, teils vom Instinkt, teils vom Verstand beherrschte Anpasssung findet statt. Es wäre unmöglich, ein lustiges Kind in gleicher Weise anzusprechen wie ein trauriges, ein ängstliches wie ein dreistes usw. Und würde man mit einem Dreijährigen in gleicher Weise verkehren wie mit einem Erwachgenen oder auch nur mit einem größeren Kinde, dann würde dies höchst ungeschickt oder lächerlich wirken.

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Es scheint wichtig, im Anschluß daran folgendes zu besprechen: Im Befehlen wie überhaupt im Benehmen einem Kinde [467] gegenüber verhält man sich natürlich nicht angepaßt an den realen, wirklichen Charakter des Kindes, sondern bloß an den, den man selbst im Kinde sieht. Wenn ein Kind in den Augen des Erziehers mit Eigenschaften behaftet ist, die es tatsächlich nicht besitzt oder wenn irgendwelche seiner Reaktionen falsch verstanden werden, dann bedeutet dies automatisch eine falsche Gefühlseinstellung dem Kinde gegenüber, die in den erzieherischen Maßnahmen und vor allem in deren Gefühlsgehalt ihren Ausdruck findet. Dementsprechend äußert sich jede Meinungsänderung des Erziehers über das Kind als Veränderung oder neue Nuance in seinem Verhalten zum Kinde. Jeder neue diagnostische Fortschritt, jedes Erkennen einer neuen Wesenseigenschaft, auch jede Korrektur eines dies-bezüglichen Irrtums verändert das Kind in seinen Augen nach irgendeiner Richtung und damit auch die Gefühle, die er für das Kind hat. Unter Umständen sieht er ein ganz anderes als bisher und ist im gleichen Moment auch gezwungen, ihm anders zu begegnen.

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In Fragen der Erziehungsberatung spielt dies eine große Rolle. Wenn man Eltern oder Erziehern bezüglich bestimmter Kinder Erziehungsratschläge geben will, ist man gewöhnlich darauf eingestellt, ihnen Belehrungen zu geben, wie sie es am besten anders machen sollen als bisher, oder wie sie sich unter diesen oder jenen Umständen dem Kinde gegenüber verhalten sollen. Jeder einigermaßen erfahrene und kritisch eingestellte Erziehungsberater weiß, wie selten solche Ratschläge ein empfängliches Ohr finden. Die Eltern sehen hinter den Reaktionen des Kindes immer ganz bestimmte, schlechte oder gute Eigenschaften, durch die sie automatisch in eine bestimmte Gefühlseinstellung gebracht werden. Daher müssen, solange die Reaktionen des Kindes mißverstanden werden, auch die erzieherischen Maßnahmen — wenigstens ihrem Gefühlsgehalte nach — falsch bleiben. Daran ändern auch die besten Ratschläge nichts, solange der Berater nicht den gangbareren Weg wählt und seine diagnostischen Erkenntnisse dazu benützt, den Eltern das Wesen ihrer Kinder, besonders in seinen Schwierigkeiten verständlich zu machen. Wenn eine auffallende oder unangenehme Reaktion eines Kindes in ihrem Mechanismus verstanden wird, dann fällt es dem natürlichen Erzieherinstinkte gewöhnlich nicht schwer, die richtige therapeutische Antwort zu finden. Für das, was hier gemeint ist, werden sich in dieser Schrift noch zahlreiche Beispiele finden.

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Setzt man nun entsprechend den beiden bisher festgelegten Einschränkungen eine ganz bestimmte, in ihrem Charakter wohlbekannte Erzieherpersönlichkeit und ein ganz bestimmtes, gleichfalls [468] seinem Wesen nach genau bekanntes Kind voraus und soll sich nun vorstellen, wie dieser Erzieher diesem Kinde das „Komm’her!“ sagt, dann ist man noch immer in Verlegenheit. Man könnte sich eine ganze Menge möglicher Nuancen des Verkehrstones denken, die alle dem zwischen beiden herrschenden Gefühls-verhältnisse angepaßt und daher unter Umständen richtig sein könnten. Erst wenn man in der Vorstellung eine ganz bestimmte, zwischen den beiden sich abspielende Situation vor sich sieht, kann man diese Frage beantworten. Ich kann mir z. B. vorstellen, wie ein Kind am ersten Abend an der Station im Heimweh und Verlassenheitsgefühl weint und nun von der Erzieherin, die es beschäftigen und von seinem Schmerze ablenken will, herbeigerufen wird. Die Form, in der sie das tut, die Art, wie sie Ihr Mitleid ausdrückt und Verständnis für den Schmerz zeigt und doch auch rasch auf ein anderes Thema überzuleiten sucht, ist mir bei Kenntnis der beiden Persönlichkeiten und der vorgestellten Situation fast eindeutig bestimmt.

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Dabei zeigt es sich, daß die Freiheit des Erziehers gar Keine so große ist als es nach den unzähligen Variationsmöglichkeiten, die die Gefühlssprache bietet, anfangs scheinen konnte. Diese Variationen bedeuten nur eine ungeheure Anpassungsmöglichkeit an die Erfordernisse der jeweils aktuellen Situation. Was geschehen soll, ist gewiß im weitesten Ausmaße dem Willen des Erziehers anheimgegeben, nicht aber die Form, in der er es anstrebt. Man stelle sich nur den gleichen Erzieher mit den gleichen Kindern in den verschiedenen, regelmäßig wiederkehrenden Situationen des Tageslaufes vor, wie er dauernd sein Benehmen, seinen Ton ändern muß, wenn er morgens aufstehen heißt und beim Anziehen anleitet, wenn er im Turnen seine Kommandos gibt, beim Unterricht einen unpersönlichen, didaktischen Ton anschlägt, in der Spielzeit mit-spielt und mit lustig ist. Ein dauernder Wechsel des Verhaltens ist notwendig. Sowie die Stimmung des Kindes dauernd wechselt, muß der Erzieher auch dauernd dazu gefühlsmäßig Stellung nehmen und diese Stellungnahme ausdrücken, entweder mitgehend und mit-reißend oder hemmend und verbietend. Was immer er tut und wie er es tut, es muß sich organisch in die Situation einfügen, wenn es von den Kindern wirklich verstanden und anerkannt werden soll.

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Es wäre verlockend ein Kapitel über diejenigen Erzieher zu schreiben, die in ihren erzieberischen Maßnahmen diese Gefühlssprache nicht beherrschen, daher auch nicht den richtigen Gefühlskontakt zu ihren Zöglingen finden. Jene Mutter, von der eingangs die Rede war, gibt dafür ein extremes Beispiel. Doch die prinzipielle Besprechung falscher erzieherischer Einstellungen gehört [469] mehr in das Arbeitsgebiet der allgemeinen Pädagogik, die sich ja mit den allgemeinen Grundsätzen einer richtigen Erziehung und mit den grundsätzlichen Verstößen dagegen zu befassen hat, als in das Fach der Heilpädagogik. Welchen endogenen oder exogenen Ursachen ein solcher Fehler des pädagogischen Könnens immer entstammen mag, einer primären instinktschwäche oder einer Hemmung durch Ängstlichkeit und UnSicherheit dem Kinde gegenüber oder einer Hemmung durch prinzipielle Grundsätze, die eine Versteinerte, unnatürliche Benehmensweise den Kindern gegenüber zur Folge hat, in seinen Wirkungen ist er immer ähnlich. Die von solchen Erziehern unternommenen erzieherischen Maßnahmen wirken nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf den unbeteiligten Zuschauer eigentümlich leer, nicht zwingend und nicht eindrucksvoll. Man hat das Gefühl, als seien sie der Situation nicht angepaßt. Sie sind zu laut oder zu leise, gar zu streng kommandierend oder gar zu larmoyant. Oder es schießt plötzlich aus gewollter Nachsicht ein zu heftiger und nicht ganz berechtigter Zorn auf, von dem der Erzieher jetzt fortgerissen wird. Auf die Kinder wirken diese in ihrem Gefühlswerte falschen Befehle nicht gut und sie sehen sich dadurch nicht zum Folgen veranlaßt. Handelt es sich um einen relativ schwächlichen Erzieher, dann fällt er der Nichtbeachtung anheim und es kommt dauernd zu Konflikten, weil die Kinder unter seiner Führung leicht in Übermuts-Stimmung geraten. ist ein solcher unangepaßter Erzieher umgekehrt sehr kräftig und energisch, dann kann unter ihm bei den Kindern überhaupt keine rechte Stimmung entstehen, da er durch seine unharmonisch angewandte Energie eine zu starre Disziplin schafft, die den Kindern keine Bewegungsfreiheit läßt.

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Das Gegenstück einer solchen Störung des Gefühlskontaktes im Befehlen, die gleiche Störung im Gehorchen des Kindes, gehört um so mehr in das Gebiet der Heilpädagogik. Ein falsches, verständnisloses Reagieren eines Kindes auf eine richtig gegebene, erzieherische Maßnahme muß sich objektiv als Erziehungsschwierigkeit bemerkbar machen. Hier ist von Folgen oder Nichtfolgen zunächst gar nicht die Rede. Der Erzieher erwartet als Antwort auf seinen Befehl mehr als bloßen Gehorsam, er erwartet eine solche Reaktion, die ihm ein vollständiges, feinfühliges Verständnis des gegebenen Befehles anzeigt, nicht nur seinem sachlichen, sondern auch seinem Gefühlsgehalte nach. Verhält sich ein Kind in dieser Beziehung richtig, dann wirkt dies so natürlich und selbstverständlich, daß niemandem diese positive Eigenschaft des Kindes besonders zu Bewußtsein kommt. Wie ja auch das Erziehen beim guten und gut angepaßten Erzieher besonders leicht und von selbst [470] gehend erscheint. Es handelt sich dann um einen gewöhnlichen, harmonischen und natürlichen Verkehr, in dem der Erwachsene führend und tonangebend, das Kind mehr passiv und weitgehend führbar und anregbar ist. Um so auffälliger ist es freilich, wenn es sich zeigt, daß das Kind zwar die Worte, aber nicht den Gefühlsgehalt eines Befehles versteht oder wenn plötzlich unerwartet der Kontakt zwischen Erzieher und Zögling abbricht, so daß das Kind nicht imstande ist, in richtig angepaßter Weise zu reagieren.

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Dieses Phänomen soll zunächst an einem Fall demonstriert und später in seinen verschiedenen Formen systematisch besprochen werden.

Fall 1. Alfred P. (Auszug aus der Anamnese).

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Der elfjährige Bub, Schüler der ersten Gymnasialklasse, wurde von seinen Lehrern wegen seines unmöglichen Benehmens in der Schule zur Begutachtung seines Geisteszustandes und zur Überprüfung seiner Schulfähigkeit in die heilpädagogische Ambulanz geschickt.

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In einer Besprechung mit dem Schuldirektor und mit mehreren seiner Klassenlehrer stellte es sich heraus, daß sie alle sehr froh wären, wenn er aus der Klasse entfernt würde und daß sie seine Ausschließung bloß deshalb noch nicht beantragt hatten, weil sie ihn eher für abnorm als für schlecht hielten. Aber sie alle klagten sehr: daß er nicht aufpasse, beim Unterricht nicht mittue und daher trotz guter Fähigkeiten nicht mitkomme; daß er besonders unruhig und ganz unbeeinflußbar sei. Während des Unterrichtes bleibe er kaum je einen Moment ruhig, benehme sich gänzlich ungeniert und rücksichtslos. Fortwährend rede und schreie er und mache Zwischenrufe. Es sei unmöglich, in seiner Anwesenheit eine Disziplin in der Klasse zu erhalten. Ermahnungen und Strafen, aber auch gütliches Zureden seien wirkungslos. Immer wieder sei es notwendig, ihn in der Direktions-kanzlei zu isolieren, damit er und die Klasse zur Ruhe kommen.

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Die größte sorge bereitete den Lehrern sein Zorn. Alle erzählten, daß er plötzlich bei den nichtigsten Anlässen blindwütend und rücksichtslos losgehe, sowohl in der Pause als auch gelegentlich während des Unterrichtes. Man fürchtete, der Bub werde einmal bei einer solchen Gelegenheit einen Kameraden mit irgendeinem Werkzeuge, der Zirkelspitze oder dem Taschenmesser ernstlich verletzen.

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Anderseits betonten die Lehrer immer wieder, daß er gutmütig und anständig sei und daß ihm offensichtlich bei seinen unangenehmen Handlungen die böse Absicht fehle.

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Zu Hause war leichter mit ihm auszukommen. Die Eltern hatten nicht viel zu klagen. Höchstens, daß man alle Wünsche mehrmals wiederholen müsse. Allerdings machte es den Eindruck, als wollten die Eltern möglichst viel verschweigen in der gutgemeinten Hoffnung, den sohn dadurch in der Schule erhalten zu können.

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Er ist das einzige Kind, stammt aus einer Mittelstandsfamilie. Die häuslichen Verhältnisse sind gute und geordnete. Er hat sich nach Angabe der Eltern bisher in jeder Hinsicht normal entwickelt, hat bis auf einige Kinderkrankheiten noch keine Krankheiten durchgemacht.

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In der Familie kommen keine Geistes- oder Nervenkrankheiten vor. [471]

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Somatisch: Eine rein medizinische Diagnoge hätte schon bei der ersten ambulatorischen Untersuchung gestellt werden können. Es finden sich bei ihm eine Reihe neuropathischer Stigmen, die für eine abnorme Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems sprechen. Durch sie sieht er recht auffallend aus mit seinen etwas zu weiten, wie aufgerissen wirkenden Lidspalten, dem eigentümlichen, trockenen Glanz seiner Augen. Als es im Ambulatorium anläßlich eines gemeinsamen Ballspieles der Kinder lebhafter wurde, schien er sogleich ganz echauffiert zu sein, bekam ein feuerrotes Gesicht und sah erhitzt und schwitzend aus. Er kam trotz der fremden Umgebung rasch in einen hochgradigen Erregungszustand. Über die Besonderheiten dieser Erregbarkeit wird noch später zu sprechen sein.

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Die genaue körperliche Untersuchung konnte dem bis auf die Tatsache eines hochgradigen Dermographismus nichts hinzufügen. Aber die Tatsache der besonderen Affekterregbarkeit gemeinsam mit der Tatsache einer hochgradigen vasomotorischen Erregbarkeit gestattet es ohne weiteres, die Diagnose eines neuropathischen Zustandes zu stellen. Diese Diagnose ist allerdings hauptsächlich eine negative, da sie ganz vage irgendeinen nervösen Zustand bezeichnet, hinter dem keine ernstliche körperliche und Nervenkrankheit, auch keine ausgesprochene Geisteskrankheit steckt und der zu äußerst verschiedenen Formen der Schwererziehbbarkeit führen kann. Sie gibt auch kaum einen Anhaltspunkt für eine medizinische Therapie. Am wenigsten lassen sich aus dem Ausdrucke „Neuropathie“ irgendwelche speziell heilpädagogischen Schlüsse ziehen oder solche auf die Eigenart der psychischen Störung des mit ihr etikettierten Kindes. Es konnte in unserem Falle nicht die Rede davon sein, daß auf Grund dieser Diagnose allein eine Entscheidung bezüglich der Schulausschließung oder bezüglich eines der sonst bei ihm zu lösenden Probleme getroffen werden Konnte, etwa wie er weiter zu unterrichten sei, wie man mit ihm am besten umgehen solle, ob er besser zu Hause zu behalten oder in eine Erziehungsanstalt zu geben sei. Aus diesem Grunde wurde zwecks genauerer Beobachtung seine Aufnahme an die heilpädagogische Abteilung verfügt.

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Ich bringe nun zunächst einen Auszug aus dem zusammenfassenden Führungsbericht über den ungefähr sechswöchentlichen Aufenhalt des Knaben an der Abteilung: 1

1 Sämtliche in dieser Arbeit zitierten Benehmensberichte sind von der pädagogischen Leiterin der heilpädagogischen Abteilung Schwester Viktorine Zak verfaßt, der ich an dieser Stelle für ihre freundliche Überlassung bestens danke.

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„Er wirkt in seinem allgemeinen Verhalten sehr kindisch und unbubenhaft. Er hat gar keinen Appell. Er pflegt nicht die geringste Notiz vom Befehle zu nehmen. Erst wenn er durch Schütteln fühlbar ermahnt wird, ist er erstaunt über die vorwurfsvolle Miene und fragt wie aus den Wolken gefallen, was man denn von ihm wolle oder gar, warum man ihn störe. Weist man ihn deshalb zurecht, dann kommt ein Redeschwall mit viel Geschrei und vielen Gesten, aber noch immer ist er nicht in der Lage, endlich zu hören oder dem gewünschten Befehle Folge zu leisten.“

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„Das autoritative Verhältnis zum Erwachsenen ist ihm überhaupt fremd: Energie und Strafen haben nur den einen Erfolg, daß er dadurch gereizt wird, jedes andere Vorgehen aber fordert ihn zum Witzeln und [472] Parlamentieren heraus. Man könnte meinen, eine kurze, sachliche Art des Umganges werde bei ihm vielleicht erfolgreicher sein, doch ist auch dies nicht der Fall. Oft ist er ganz abgestellt und benimmt sich als wäre er blind und taub. Im Anfang hielten wird dies für Frozzelei, besonders wenn er schließlich gar noch schmunzelnd antwortete, so daß man glauben mußte, er mache sich lustig. So faßten es auch die Kinder jedesmal auf und brachen in ein schadenfrohes Gelächter aus, wenn er eine Zurechtweisung so ahnungslos und ungeniert beantwortete. Das bedeutete ihm dann einen erneuten Anreiz und er hatte noch und noch etwas zu sagen. Wenn er von seiten der Kinder eine solche Anerkennung Spürt, macht ihm auch eine Strafe (Absonderung) nichts. Erst wenn es ihm dort zu langweilig wird, kommt er sekkieren, man möge ihm seine Strafe erlassen. Wieder tut er dies ganz ungebührlich, so als handle es sich bloß um die Erfüllung eines kleinen, unschuldigen Wunsches, der aber momentan nicht ganz angebracht ist, weshalb er eindringlicher werden muß. Wieder ist man erstaunt und irritiert, daß die Strafe und auch die unangenehme Situation selbst so gar keinen Eindruck auf ihn machen. So ist man ihm gegenüber oft ganz ratlos, fühlt den Wunsch, noch energischer vorzugehen und muß doch einsehen, daß er gar nicht in der Verfassung ist, die Anordnungen und erzieherischen Maßnahmen zu verstehen.“

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„Ebensowenig ist die Schulsituation, also das richtige Lernen imstande, ihn zu fesseln und in die Gesamtstimmung und Situation einzuordnen. Bei einer schriftlichen Rechenarbeit z. B. spricht er laut vor sich hin; sein Entsetzen über ein Mißlingen, seinen Ärger über die Schwierigkeiten einer Aufgabe, seinen Triumph, wenn ihm etwas geglückt ist, alles muß er laut kundtun. Bei den andern erzielt er damit natürlich wieder einen Heiterkeitserfolg und damit ist die Unterrichtsdisziplin für eine Weile aufgehoben. Am besten geht es noch, wenn man ihn von vornherein irgendwohin allein setzt und ihm eine Aufgabe diktiert. Doch muß man sie so wählen, daß er sie allein zustande bringen kann, sonst belästigt er dauernd, verlangt ständig Hilfe, denn er hält es ja allein nicht aus. Es nützt auch nichts, wenn man ihm Gelegenheit gibt, vor sich hin zu sprechen, denn wenn er irgendwo die geringste Aussicht spürt gehört zu werden, wendet er sich mit Sicherheit und Zähigkeit dorthin.“

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„Überhaupt, wenn er etwas wünscht oder will, soll man es sofort gewähren. Er wird nicht müde, ununterbrochen mit monotoner Stimme das-selbe zu verlangen. Eine abschlägige Antwort nimmt er gar nicht zur Kenntnis. Er nimmt auch keine Rücksicht darauf, daß man sehr beschäftigt ist, sondern beharrt wie ein kleines Kind bei seinem Wunsche. Er versucht es mit allen Mitteln, rennt auf Schritt und Tritt nach, versucht die Erzieherin zu umarmen und zu küssen. Es liegt dieser Art kein Zärtlichkeitsbedürfnis zugrunde, sondern es fehlt ihm das Gefühl für körperliche Distanz.“

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„Persönliche Konflikte hat er mit den andern nicht, auch verbinden ihn keine interessen mit den Kameraden. Aber es kommt dauernd durch ihn zu Streitigkeiten und Szenen. Durch seine laute, unbekümmerte Art drängt er, ohne es zu wollen, die andern zurück, wirkt bei gemeinsamen Spielen sehr irritierend auf sie, weil immer nur er reden und an der Reihe sein will. So kommt es leicht zu einer Plänkelei, die alsbald in Schlagen und Boxen ausartet. Die andern großen Buben vermissen bei ihm das Kameradschaftliche und vereinigen sich deshalb gegen ihn. Manchmal reizen sie ihn zu [473] ihrem Vergnügen. Denn in der Aufregung gerät er außer sich, wird rot wie ein Truthahn und faucht wie eine Katze. Eine Schlägerei ist ihm zwar willkommen, weil ihm jedes körperliche Ausleben angenehm ist, doch ist er infolge seiner Erregung den andern nicht gewachsen, wird blindwütig und haut zu, es scheint, er sieht nicht mehr, wer und wo der Angreifer ist. Auf diese Weise zahlt er gehörig drauf.“

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„Manchmal wenn er bei einer Schlägerei einen stärkeren Stoß erhält oder sich irgendwo anschlägt, kommt es zu einem heftigen Ausbruch. Man hört ihn plötzlich von irgendwoher jämmerlich rufen, so als wäre etwas Entsetzliches geschehen: „Zu Hilfe, zu Hilfe! Helfen sie mir, ich erstick’, ich erstick’!“ (als er einmal auf den Rücken fiel). Man jagt entsetzt zur Stelle hin und findet ihn dort liegen, blaurot im Gesicht und vollständig fasgungslos wimmernd. Es bleibt nichts übrig, als ihm zuzureden und ihn zu ermuntern und den Ablauf der Schockreaktion abzuwarten. Für die Kinder und auch für die Erwachsenen ist eine solche Szene immer wieder ein sehr erschreckendes und eindrucksvolles Erlebnis, da man im ersten Augenblick glauben muß, es sei ein Unglück geschehen. Sie kommt nicht nur bei Raufereien vor, sondern auch bei Nachlauf- und Ballspielen, da er in seiner Erregtheit die Regeln und den Spielgeist mißachtet und zur unrichtigen Zeit dreinfährt.“

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„Trotzdem er so viel Mühe macht, die Disziplin untergräbt, die Kinder durcheinanderbringt, kann man ihm nicht böse sein, ja man schützt ihn sogar gegen die Kinder und setzt sich dadurch gelegentlich ihrem Unwillen aus. Er selbst trägt den Kindern gar nichts nach. Nur solange er noch heult und Schmerzen fühlt, klagt er sie an und rechtfertigt sich, aber so-bald er das Unangenehme nicht mehr spürt, ist er sofort wieder lieb zu ihnen.“

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Es soll jetzt versucht werden, aus diesem Berichte Schlüsse für unsere Ausgangsbetrachtung über Befehlen und Gehorchen zu ziehen. Dabei so1l eine Zeitlang ganz von ärztlichen und psychopathologischen Kenntnissen abgesehen und versucht werden, das Problem der Führung dieses Jungen vom Standpunkt eines naiven, nicht heilpädagogisch eingestellten Erziehers zu betrachten, der bloß mit Hilfe seines angeborenen, erzieherischen instinktes und seiner an gesunden Kindern erworbenen Erfahrungen arbeitet und nicht auf außergewöhnliche, abnorme Reaktionsweisen gefaßt ist. Der hat nun die Aufgabe, in einer Gruppe nicht schwererziehbarer Kinder auch diesen einen schwierigen Jungen mitzuführen.

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Man stelle sich da eine dieser Szenen vor, wie sie im Berichte geschildert werden. Sie spielt sich etwa folgendermaßen ab: es herrscht unter den Kindern z. B. In einer Unterrichtspause eine lustige, laute Stimmung, alles rennt durcheinander, es wird ein wenig Lärm gemacht, ein bißchen gebalgt. Nach einiger Zeit kommt der Erzieher und verlangt Stille und Ordnung, damit weiter unterrichtet werde. Es gelingt ihm auch ohne weiteres, die andern Kinder zur Ruhe zu bringen, nur er scheint nicht gehört zu haben und lärmt als einziger weiter. Die Gesamtstimmung der übrigen [474] Schar, die jetzt bereits eine ruhige geworden ist, wird dadurch wesentlich gestört. Man ermahnt ihn also „Hör’ auf!“ und da er nicht gehört zu haben scheint, ruft man noch ein zweites Mal, diesmal so laut, daß er hören mußte. Wenn auch dies vollkommen wirkungslos bleibt, wird man ganz energisch und fährt ihn möglichst laut und drohend an. Aber zur unangenehmen und unerwarteten Überraschung verhält sich der Bub genau so als hätte man überhaupt nichts zu ihm gesagt, d. h., er fährt ungeniert fort zu lärmen und zu toben. Dieses ganz ungewohnte, vollständige Ausbleiben der Wirkung einer Maßnahme, welche sonst erfahrungs-gemäß immer irgendwie wirksam ist und welche eigentlich schon ein letztes, äußerstes Mittel ist, hinter dem nur mehr sehr fragwürdige, pädagogische Reserven stehen, äußert sich beim Erzieher immer in sehr charakteristischer Weise in dem subjektiven Gefühle der Verblüffung und Irritation. Der seiner Autorität bewußte Erwachsene wertet bei naiver Einstellung eine solche Nichtbeachtung durch das Kind durchaus nicht verstehend, sondern nur so wie es auf ihn wirkt, als besondere Frechheit und Unverschämtheit. Daß dieses Verhalten nicht die Folge einer Mißachtung des Erziehers, sondern die Folge eines außergewöhnlichen, psychischen Zustandes sein könnte, kann ihm wenigstens anfangs nicht in den Sinn kommen. Ganz regelmäßig steigt in solchen Fällen ein mit triebhafter Aggressionstendenz gegen das Kind verbundener Zorn auf. Würde man sich gehen lassen, dann müßte man jetzt prügeln oder sonstwie seinem Zorne Luft machen. Und sicher wird regelmäßig, lange bevor jemand auf die Idee kommt, es könnte sich um einen abnormen Zustand handeln, immer wieder bei solchen Gelegenheiten von den Eltern versucht, den Kindern das scheinbar fehlende Autoritätsgefühl durch Schlagen beizubringen.

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Dieser heftige, impulsive Zorn in Situationen, in denen sich ein Kind vollkommen widersetzlich oder absolut refraktär gegen eine erzieherische Maßnahme zeigt, ist merkwürdig fest verankert und schwer unterdrückbar. Derjenige, dessen gewählter Beruf es ist, sich mit Erziehungsschwierigkeiten zu beschäftigen, ist nicht so leicht in Zorn zu bringen. Die Schlimmheit des Kindes ist für ihn ja nicht ein unvorhergesehenes, unangenehmes Ereignis, sondern gerade das gesuchte Problem, das zu lösen seine Aufgabe ist. Wenn er dem Kinde in der lebendigen Situation als Erzieher entgegentritt, muß er eine eigentümliche Doppelrolle spielen, sowohl was das Kind betrifft, das er nicht nur führen, sondern auch gleichzeitig in seiner Eigenart beobachten soll, als auch für sich selbst, da er stets nicht nur fühlen und handeln, sondern dann auch in der Reflexion sich selbst und seine Aktionen und Reaktionen beobachten [475] muß, um sich Rechenschaft über sein richtiges und falsches Vorgehen dem Kinde gegenüber zu geben. Dieses eigentümliche Verhältnis des heilpädagogisch eingestellten Erziehers zum Kinde bringt es mit sich, daß er ihm jederzeit objektiv und beherrscht gegenüberstehen kann. Damit rechnet er auch und gewöhnt sich daran, seinem Zorne, wenn er ihm einmal aufsteigt, sofort zu objektivieren und als Symptom zu verwerten. Es hat sich gezeigt, daß, so stark objektivierte Einstellung vorausgesetzt, der Zorn des Erziehers selbst auf eine schwerwiegende psychische Abnormität des Kindes hinweist. Lazar hat seinerzeit in mündlichen Mitteilungen und in Vorlesungen auf dieses Phönomen aufmerksam gemacht, das ihm zuerst in seiner Jugendgerichtstätigkeit auffiel. Er berichtete, daß er regelmäßig auf eine schwere psychische Abnormität schließen konnte und damit immer recht behielt, wenn ein Jugendlicher sich vor dem Richter so empörend benahm, daß er (Lazar) dadurch in Zorn gebracht wurde.

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In der oben beschriebenen Szene ist der Zorn des Erziebers auf eine falsche gefühlsmäßige Beurteilung der Reaktionsweise des Buben zurückzuführen. Man hält sein Verhalten für besonders argen Ungehorsam und gerät dadurch in Zorn. Dieses falsche Urteil hat auch eine falsche pädagogische Einstellung zur Folge, das sonst bei Ungehorsam angebrachte Vorgehen erweist sich als vergeblich und unwirksam. Denn es zeigt sich, daß in dieser Situation Vorwürfe und Strafen vergeblich sind, weil sie den Jungen nicht treffen. Man möchte ihn, schon wegen der anderen Kinder, die ihn ja auch nicht anders als unfolgsam und frech sehen, ganz exemplarisch strafen und findet sich unerwartet einem Jungen gegenüber, der durchaus mit dem Stempel der Ehrlichkeit und Überzeugtheit dem Gefühle seiner Unschuld Ausdruck verleiht. Dadurch ist in der Praxis das Problem noch verschärft, da der übliche, erzieherische Weg nur zu weiteren, aufreibenden Kämpfen zwischen Erzieher und Kind führt. Wenn also jetzt der erste Moment der Ratlosigkeit vorüber ist, wird der Erzieher sich für künftige solche Situationen eine andere, bei diesem Kinde wirksame, erzieherische Vorgangsweise suchen müssen.

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Eines fällt ja besonders auf: daß dieses unerhörte Benehmen ihm die Sympathien seiner Erzieher nicht verscherzt, trotzdem er ihnen das Leben so schwer macht. Man hat ihn gerne und hält ihn mit Recht für gutmütig und seiner Charakteranlage nach fügsam. Es gibt auch genug Situationen, in denen er sich sehr gut benimmt, die Formen ausgezeichnet beherrscht und durchaus gefügig ist. Seinen Handlungen fehlt im allgemeinen jeder Schimmer von Bosheit oder gar gewollter Schlechtigkeit. Das alles wäre [476] nicht erklärlich, wenn diese scheinbare Frechheit und Renitenz aus Bösartigkeit oder primärer Gefühlskälte entspränge.

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Der Schlüssel des Problems liegt in der Frage, welches eigentlich die Gelegenheiten oder Biedingungen sind, unter denen er so überhaupt nicht hört. Geht man dieser Frage nach, dann kommt man sehr bald darauf, daß er wirklich für die Umwelt vollkommen abgeschlossen und nichts von ihr zu apperzipieren imstande ist, wenn er intensiver und mit Eifer auf einen Gegenstand eingestellt ist. Er gerät dann sofort in einen starken Erregungszustand, in dem die übrige Welt für ihn nicht mehr existiert. Das Nichthören des Befehles ist nur ein Teil dieses Fehlers, der sich auch sonst bei den verschiedensten Gelegenheiten bemerkbar macht. Jedes Spiel hat eine solche Erregung zur Folge, in der er dann nicht die mindeste Rücksicht auf seine Kameraden, keine Vorsicht für seine Person, kei Beachten von Spielregeln kennt. Er kann im Eifer ganz vergessen, daß es noch Menschen in seiner Umgebung gibt. Es kann passieren, daß er in einer solchen Situation den Erwachsenen, der ihn aufhalten oder ihm etwas sagen will, einfach mit einer Reflexbewegung wie irgendeinen Gegenstand beiseite schiebt. Am unbeeinflußbarsten ist er im Zornaffekt. Nur mit Brachialgewalt ist er da von blindwütigem Losgehen zurückzuhalten.

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Er ist ganz besonders erregbar. Nur in ganz gleichgültigen Situationen, z. B. unter vier Augen im vollkommen sachlichen, unpersönlichen Gespräch kann es gelingen, ihn als ruhigen, höflichen und recht intelligenten Menschen kennen zu lernen. Alles was bei andern Kindern bloß gefühlsbetont ist, äußert sich bei ihm als Affekt mit den dazugehörigen Zeichen der Erregtheit. Die nichtigsten, kleinsten Anlässe des Alltags, Freuden, Erwartungen, Wünsche, interessen, körperliche Schmerzen, Furcht, das alles hat die gleichen übertriebenen Konsequenzen. Und in dieser Erregtheit ist der Horizont seines Bewußtseins weitgehend eingeengt in der ausschließlichen Richtung auf den intentionalen Gegenstand jenes Affektes, der ihn eben beherrscht. Daher können irgendwelche neu hinzutretenden Einflüsse, z. B. Befehle nicht wirksam werden. Er ist nicht in der Lage, den an sein Ohr dringenden Befehl aufzunehmen, verhält sich also in der Erregung wie ein nicht Hörender.

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So wie man den Mechanismus seines Versagens richtig versteht, stellt man sich gefühlsmäßig um und ist auch schon von der früher beschriebenen Zornreaktion befreit. Jetzt kann man sich ihm gegenüber viel freier und richtiger verhalten. Man wird trachten, sein Leben so einzurichten, daß erregende Reize möglichst ausgeschaltet sind. In der Erregung aber, wenn es sich zeigt, daß bei ihm keine aktive Beherrschung des Affektes und keine [477] selbstbesinnung möglich ist, muß man eben, ohne sich zu ärgern, mit geeignet scheinenden Mitteln seine Umgebung und auch ihn vor seinen eigenen, unvorsichtigen Handlungen Schützen. Seinen Affektausbrüchen fehlt nach ihrem Ablaufe die Nachwirkung, sie baben in der Erinnerung keine Gefühlsbetonung mehr, werden daher rasch vergessen. Es hat deshalb bei ihm nur einen Sinn, für die Gegenwart zu sorgen. Ihn lehren zu wollen, wie er in Zukunft diese Unannehmlichkeiten vermeiden kann, wäre ein aussichtsloses Unternehmen.

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Es war eingangs davon die Rede, daß ein Kind einen Befehl nicht verstehen kann, dem nicht durch die entsprechenden Ausdrucksmittel die richtige Gefühlsbetonung verliehen wird; in dem gegebenen Beispiele des fünfjährigen Buben ging dies so weit, daß das Kind gar nicht hörte, was der Erzieher ihm sagte. Dies trifft auch bei dem zuletzt besprochenen Kinde zu. Doch der Mechanismus der Störung ist in beiden Fällen ein grundsätzlich verschiedener. Das eine Mal war die falsche Befehlgebung schuld. Im zweiten Falle war eine richtige Form der Befehlgebung vorausgesetzt. Der Fehler lag jetzt beim Kinde, das unter Umständen, eben im Zustande der Erregung, so vollständig von der Umwelt abgesperrt war, daß der Befehl nicht zu ihm gelangen konnte.

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Aber durch den eben dargelegten Störungsmechanismus allein ist sein merkwürdiges Verhalten dem Erzieher gegenüber, wie es im Benehmensberichte geschildert wird, noch nicht vollständig erklärt. Es ist noch ein Fehler vorhanden, der teilweise den ersten verstärkt, zum Teil aber auch selbständig wirksam ist.

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Auch wenn sich zwisschen ihm und dem Erzieher ein Rapport hergestellt hat, verhält er sich oft sehr unangenehm und ärgerlich. Z. B.: er hat wieder einmal etwas angestellt, der Erzieher hat ihn mühsam in einen empfänglichen Zustand gebracht und macht ihm energische Vorwürfe. Er erwartet nun, daß der Bub eine dem Ausgescholtenwerden entsprechende Haltung einnehmen werde, sich verlegen zeigen oder vielleicht stillschweigend das unangenehme Ereignis über sich ergehen lassen oder eine Verteidigung vorbringen oder weinen werde oder was sonst schon ein Kind in einer solchen Situation je nach Gefühlseinstellung oder Artung Entsprechendes zu tun pflegt. Aber statt dessen Kommt etwas ganz anderes, gänzlich Unerwartetes und Unpassendes. Er erwidert z. B. die Vorwürfe mit einem dummen Witze oder er antwortet, wenn er empört angefahren wird, in gemütlichen, plaudernden Konversationston oder sagt nur so nebenbei „Ja, ja“ und wendet sich etwas anderem zu.

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Wenn plötzlich auf eine schärfere erzieherische Maßnahme eine solche Antwort kommt, aus der zu erkennen ist, daß die Maßnahme [478] den Betroffenen gleichgültig läßt oder scheinbar sogar von ihm verhöhnt wird, dann wirkt dies auf den Erzieher fast noch unangenehmer als das zuerst geschilderte, gänzliche Ignorieren eines Befehles. Eine solche Unempfindlichkeit gegen Schelten und Strafen wertet man nach gewöhnlichem ethischen Maßstabe als Stumpfheit oder Gefühlsroheit. Da man auf das Kind gar nicht einzuwirken imstande ist, fühlt man sich plötzlich macht- und ratlos und es kommt wieder zu jener oben bereits ausführlich besprochenen, eigentümlichen Irritations- und Zornreaktion.

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Wenn man ihn dann näher kennen lernt, glaubt man, wie gesagt, nicht mehr an seine Bösartigkeit. Sein Fehler liegt auf ganz anderem Gebiete als auf dem des Charakters oder der Moral. Gerade das, was sonst den wesentlichen Teil des Einflusses ausmacht, den die Person des Erwachsenen auf das Kind ausübt, macht auf ihn keinen Eindruck. Man kann ihn nicht ausschelten, ihm nicht drohen, denn es wirkt irgendwie nicht, auch wenn er einmal in einer empfänglichen Phase hört. Aber er fühlt auch nicht den Blick, durch den man ihm etwas mitteilen will, spürt nicht, daß man sich gegen ihn ablehnend verhält, auch nicht, daß man ihm gut gesinnt ist und Teilnahme und interesse zeigt. Kurz, er weiß nie, welches die Gefühle und Stimmungen sind, die seinen Erzieher im Augenblicke beherrschen und die er ihm gegenüber weniger durch Worte als durch die Gesten, das Mienenspiel, die Betonung der Worte ausdrückt. Daher kommt es immer wieder zu Mißverständnissen. Da er den Gefühlsgehalt der Anrede nicht erfaßt, fallen auch seine Antworten und reaktiven Handlungen so falsch aus. Er nimmt als Scherz, was durchaus ernst gemeint ist und antwortet darauf auch seiner-seits mit einem Witz, er hält für ein gleichgültiges Wort, was durch die Betonung den Sinn einer Drohung erhalten hat und kümmert sich daher nicht darum. Man gibt ihm einen dringenden Auftrag und er lehnt ihn ab in einer Art, als wäre man sein Kumpan, dem zu Gefallen zu sein er eben keine Lust und auch keine Ursache hat. Er spürt nicht, daß man ihn eben nicht brauchen kann und wird daher lästig. Er fühlt auch nicht die Stimmung der umgebenden Kinderschar, kann sich ihr daher auch nicht anpassen und wirkt überall als Fremdkörper und störend. Daher ist er auch unbrauchbar, wenn irgendeine Disziplin, ein Korpsgeist, ein Zusammenarbeiten beim Turnen, bei einem Bubenspiel oder sonst einer gemeinsamen Tätigkeit notwendig ist, daher ist er auch nicht imstande, das in der Schule erforderliche Benehmen zu erlernen.

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Es ist klar, daß sich diese beiden Störungen, die besondere Erregbarkeit mit ihrer psychischen Absperrung und das mangelnde Verständnis für den Gefühlsgehalt des gesprochenen Wortes, gegenseitig [479] durchdringen und steigern müssen. Sein unangepaßtes Benehmen provoziert dauernd Konflikte, die Anlaß zu Erregungen geben, in denen ja gerade er sich maßlos steigert. Und wenn er in dieser Erregung so besonders blind und taub ist, ist dies sicher auch zum Teil darauf zurückzuführen, daß das, was man ihm sagen möchte, in ganz anderer, abgeschwächter Weise auf ihn wirkt als auf andere Menschen, da die Gefühlsbetonung des an ihn gerichteten Wortes, die ja gerade in solchen Momenten nicht gering zu sein pflegt, von ihm gar nicht bemerkt wird.

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Als Ganzes ergeben sich daraus die schweren Erziehungsschwierigkeiten, die ihn sogar an der heilpädagogischen Station unter so vielen schwierigen Kindern auffallend machten, um so mehr zweifellos in der Mittelschule, wo man sich auf ihn nicht besonders einstellen oder ihn berücksichtigen kann. Bei seiner übergroßen Erregbarkeit scheint es aber auch glaubwürdig, daß er zu Hause viel ruhiger ist, da es dort viel stiller ist als in der Schule und viel weniger Aufreizendes ihn trifft. Aus diesem Grunde wurde den Eltern auch geraten, ihn nur zu Hause unterrichten zu lassen. Seither ist mehr als ein halbes Jahr verstrichen. Es geht zu Hause recht gut und es zeigte sich, daß er unter vier Augen gar nicht so schwer zu unterrichten ist und recht gut lernt.